Als ich in der Schule Sachunterricht genoss, war die Nazi-Zeit fast 40 Jahre vorbei. Durch die Lehrbücher spukten die gestrigen Themen aber noch. So erfuhren wir, dass es drei Menschenrassen gebe. Die Europiden, die Negriden und die Mongoliden, deren äußere Merkmale zu lernen waren: hohe Stirn, lange oder flache Nasen, krause Haare, wulstige Lippen usw. Ganz zu schweigen von der Hautfarbe.
Das war zu einer Zeit, als die Humanbiologie die Vorstellung von Rassen längst auf dem Müllplatz wissenschaftlicher Irrwege entsorgt hatte. Dass die genetischen Unterschiede innerhalb einer Population viel größer sind als die Unterschiede zwischen den Populationen, ist ebenso erforscht wie der Umstand, dass äußere Merkmale sich als Reaktionen auf klimatische Bedingungen entwickelt haben. Und dass die Grenzen allesamt fließend verlaufen. Der Ursprung der Einteilung von Menschen in „Rassen“ ist ein simpler psychologischer Reflex als Reaktion auf unterschiedlich aussehende Leute.
All das ist bekannt und doch hält sich hartnäckig die Vorstellung von „Rassen“ – auch in den Medien, wenn wieder einmal von „Rassenunruhen“ oder „Rassenkonflikten“ geschrieben wird. Begriffe, die implizieren, dass dies Machtkämpfe zwischen biologisch definierten Gruppen seien und nicht Aufstände gegen soziale und ökonomische Unterdrückung.
Der Begriff „Rasse“ kam in der frühen Neuzeit auf, die Verwissenschaftlichung und Systematisierung erfolgte seit der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts. Der Rassismus war dabei immer integraler Bestandteil dieser „Lehre“, wohl auch, weil sich damit praktischerweise Jahrtausendverbrechen wie die Sklaverei legitimieren ließen.
Von Deutschland aus, wo jeder Wahn bekanntlich zur Methode gesteigert werden kann, verheerte die Rassenideologie einen ganzen Kontinent. Pseudowissenschaft und kultureller Hass gingen eine Allianz ein, die Millionen Menschen das Leben kostete. An die Absurditäten des Nazi-Rassenwahns erinnert derzeit die Schau „Vermessungsamt/Geodetski urad“ in St. Jakob in Rosental über eine „rassenkundliche“ Kampagne 1938, während der 3200 Kärntner vermessen wurden.
Der Glaube an „Rassen“, der nie wirklich verschwunden ist, erhält seit einiger Zeit aus verschiedenen Richtungen neuen Schub. In Teilen der Gentechnik und ihrer detailreichen Aufschlüsselungen wird zwar nicht mehr von „Rassen“, sondern von „Populationen“ gesprochen. Der italienische Populationsgenetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza, der vor wenigen Wochen verstorben ist, war ein Star seiner Zunft. Er lehnte eine Rassenlehre zwar vehement ab, lokalisierte aber 38 verschiedene Populationen. Ein Konzept, das freilich viel elaborierter ist als die auf der Unterscheidung körperlicher Merkmale fußende Rassenkunde. In Cavalli-Sforzas Systematik sind die australischen Aborigines und die westafrikanischen Pygmäenvölker die genetisch am weitesten voneinander entfernten Menschengruppen.
Andere Forscher gehen noch viel weiter. Berüchtigt wurden US-Studien wie die 1994 erschienene „The Bell Curve“, in der eine Verbindung zwischen Intelligenz und „Rasse“ gezogen wurde. 2014 erschien Nicholas Wades „A Troublesome Inheritance“. Der ehemalige Journalist der „New York Times“ behauptet, dass gewisse Bevölkerungsgruppen wie „Juden“ besonders klug seien. Auch wenn 139 Bevölkerungsgenetiker und Evolutionstheoretiker in einem offenen Brief Wades Theorien als „schlechte Wissenschaft“ anprangerten, fielen sie in den USA auf fruchtbaren Boden. Die Alt-Right-Bewegung nimmt nicht erst seit der Trump-Ära solche Aussagen gierig auf, um ihre politische Agenda zu stützen: Wenn Arme (Schwarze) arm sind, liege es halt einfach daran, dass sie dumm seien.
Auch das Wiedererstarken der Idee von kulturellen Identitäten (gepflegt von rechts und links) sind – gewollt oder nicht – Treibstoff, Menschen wieder voneinander abzugrenzen. In einer Zeit massiven Individualismus herrscht offenbar eine Sehnsucht nach Ideen wie „Staat“ und „Nation“ und marginalisierte Gruppen fordern mehr Diversität. Man entkommt diesem omnipräsenten gesellschaftlichen Identitätsdruck kaum. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie beschreibt in ihrem grandiosen Roman „Americanah“ das Ringen einer Frau um eine kulturelle Identität: Erst als die Afrikanerin in die USA emigriert, wird sie vom Gedanken einer „Rasse“ zugehörig zu sein, beherrscht.
Solche Identitätsdiskussionen müssen geführt werden, ohne dass sich die Rassenlehre mithilfe der Genetik durch die Hintertüre wieder hereinschleicht. Fakt ist, dass Ideen wie jene von Cavalli-Sforza umstritten sind. Das Gros der Wissenschaft steht solchen Systemen skeptisch gegenüber, auch dass sich ihre diversen Ansätze nicht vereinbaren lassen, darf als Hinweis darauf interpretiert werden, dass diese Genetiker auf Holzwegen unterwegs sind.
Nächste Woche jähren sich die Novemberpogrome zum 80. Mal. Der Massenmord in der Synagoge von Pittsburgh hat gezeigt, dass der Rassismus bis heute Opfer fordert. Warum entzieht man ihm nicht seine Grundlage, indem man das Konstrukt „Rasse“ aus dem Diskurs endgültig verbannt? Das hieße nicht, Denkverbote auszusprechen, sondern Ethik und Wissenschaft Genüge zu tun.