Diese Zeitreise hat es in sich: Egon Friedell, Wiener Schriftsteller, Schauspieler und Kulturhistoriker, der sich 1938 im Alter von 60 Jahren aus Angst vor den Nazi-Schergen aus dem dritten Stock seines Hauses in Wien stürzt, wird vom britischen Autor H. G. Wells aufgefangen und mit seiner „Zeitmaschine“ zuerst in die Zukunft, dann in die Vergangenheit geführt.
Egyd Gstättners jüngster Roman widmet sich – so wie schon die Vorgängerbücher „Das Geisterschiff“ oder „Das Mädchen im See“ – historischen Figuren, deren Leben der Autor teils realistisch, teils fiktional aufbereitet. Und so trifft man beim „Wiener Fenstersturz“, dessen Cover ein Original-Foto von Friedell in seiner Paraderolle als Goethe ziert, nicht nur auf Lina Loos und Karl Kraus, Peter Altenberg und Siegmund Freud, sondern auch auf Armin Wolf, Steve Jobs, iPhones und Euros.
Als Replik auf Wells Jahrzehnte früher veröffentlichten Science-Fiction-Roman „Die Zeitmaschine“, erschien 1946 posthum Friedells Satire „Die Reise mit der Zeitmaschine“, was Egyd Gstättner auf raffinierte Weise zu einer temporeichen Tour de force durch die Geschichte animiert. Aber nicht nur ein amüsanter Stadtspaziergang durch das Wien der Kaffeehausliteraten ist aus diesem Kunstgriff entstanden. Das Buch zeichnet auch ein einfühlsames Psychogramm des Lebemanns und Literaten Friedell, der ein Leben lang darunter litt, als Kleinkind mit seinen zwei Geschwistern und dem Vater von der Mutter verlassen worden zu sein.
Mit leichter Hand verknüpft Gstättner Lebens- und Zeitgeschichte, berührend einfühlsam oder aberwitzig skurril – etwa wenn er Friedell, Wells und Altenberg im 21. Jahrhundert auf eine Buchhändlerin treffen lässt, die ihnen den „Wiener Fenstersturz“ empfiehlt: „Das sei ein fantastischer, buchstäblich ein fantastischer Roman, gewissermaßen der Mercedes unter den Neuerscheinungen der Saison. Es sei eine berührende Geschichte, die auf dem authentischen tragischen Schicksal eines längst vergessenen Schriftstellers namens Egon Friedell beruhe (...) Längst vergessen? Unerhört! Sie spürte meine Bestürzung.“
Karin Waldner-Petutschnig