Wo warst Du beim Amoklauf? Das Stück "Point Of No Return" hat das auf die Bühne der Kammerspiele gebracht, worüber die Münchner jüngst wohl am meisten gesprochen haben. Regisseurin Yael Ronen zeigt rund drei Monate nach der schrecklichen Tat vom 22. Juli, bei der David S. im Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen und sich selbst erschoss, was an diesem Abend in den Köpfen der Münchner vorging.
Ungeheuer eindringlich und vor allem mit entlarvendem Humor zeigt das Stück am Donnerstagabend bei der Uraufführung, wie an dem Mehrfachmord unbeteiligte Menschen sich an diesem Abend vor allem Sorgen um das Bild machten, das sie abgeben, über die Rolle, die sie an diesem denkwürdigen Abend spielen wollten. Dafür verschwimmen in dem deutsch-englischen Stück die Rollen der Schauspieler mit den Darstellern selbst.
"Ich bin einfach angefangen, zu rennen - ohne zu fragen, warum", sagt der Australier Damian Rebgetz auf der Bühne. "Ich wollte schließlich nicht uninformiert wirken." Dejan Bucin schildert, wie er in dem Billig-Klamottenladen, in dem er sich verschanzt, nach einem Ladekabel für sein Handy sucht, um sich auf Facebook mitzuteilen ("In diesem Moment starb das Handy in meinen Armen"). "Ich dachte, das sind Touristen; sie machen so komische Dinge - oder sie suchen Pokémon", sagt die Serbin Jelena Kuljic über die panischen Massen in der Münchner Innenstadt.
Und Wiebke Puls lässt ihr Bühnen-Ich zunächst verkünden: "Mein erster Gedanke war: Wow, wir sind die Ersten - und nicht Berlin" - um schließlich die Enttäuschung kundzutun, die sich ausbreitete, als klar war, dass es sich nicht um einen Terroranschlag, sondern um einen Amoklauf handelt. "Wie peinlich." Niels Bormann erzählt von dem Traum, wie er seinen französischen Freunden den Satz "Je suis Munich" ins Deutsche übersetzt.
Es sind die Karikaturen ihrer selbst, die Ronen den Darstellern abverlangt. In einem Spiegel, der die Bühnenwände ziert, sehen die Zuschauer nicht nur die Darsteller aus den unterschiedlichsten Perspektiven, in denen sich ihre Aussagen - wie die Gerüchte am Abend des Amoklaufes - multiplizieren. Das Publikum sieht auch die ganze Aufführung lang sich selbst. Schließlich will das Stück das Seelenleben der Münchner an diesem Schreckensabend widerspiegeln.
Am Abend des Amoklaufes kam es durch die Anrufe ängstlicher Bürger bei der Polizei zu mehr als 60 falschen Terroralarmen in der ganzen Stadt.
Passenderweise ist die Bühne (Wolfgang Menardi) ein in Schieflage geratenes Zerrbild, auf dem nur eine kleine Insel mit grünen Bäumen, Rehen und Hirschen an das bayerische Idyll erinnert. Nach eineinhalb Stunden werden die Schauspieler und das Regie-Team gefeiert, die den Münchnern an diesem Abend vor allem zurufen: Entspannt Euch wieder!