Welche Bilanz würden Sie nach Ihrer ersten Saison in Graz ziehen?
Jörg Weinöhl: Wir machen Ballett für die Menschen, dass wir hier so gut angenommen wurden und so einen guten Start hatten, war ein großes Glück, eine große Freude. Besser kann es eigentlich gar nicht sein.
Was hat Sie bewogen, nach Graz zu gehen? Welchen Eindruck hatten Sie von der Stadt?
Weinöhl: Nachdem ich die Anfrage von Nora Schmid bekommen habe, bin ich erst einen Tag lang durch die Stadt spaziert, um ein Gefühl für diesen Ort zu entwickeln. Bei meinen weiteren Besuchen habe ich auch das Schloss Eggenberg und Mariatrost entdeckt. Bevor ich nach Graz gekommen bin, habe ich mir Vorstellungen angeschaut, mich in Kaffeehäuser gesetzt und gehört, was die Menschen hier beschäftigt, was Thema ist. Ich habe mit meiner Arbeit eine große Verantwortung gegenüber den Menschen, die hier leben. Sie sollen nach einer Vorstellung satt nach Hause gehen, ihr Herz soll berührt worden sein. Mein Schaffen soll begeistern, aber nicht im Sinne von Eventkultur. Es soll vielmehr den bleibenden Eindruck vermitteln, etwas Nachhaltiges erlebt zu haben.
Was hat sich seit Ihrer Ankunft verändert, was war Ihnen ein Anliegen?
Weinöhl: Es war mir wichtig zu schauen, ob es bei der Auswahl der Stücke bereits eine künstlerische Handschrift gibt, um diese dann stehen zu lassen, aber auch den Kontakt und die Anknüpfungspunkte mit meiner ganz eigenen künstlerischen Vision zu spüren, um diese dann weiterzuentwickeln. Ich habe geschaut, was in Graz - nicht nur in der Tanzkunst - bereits entstanden ist, was vielleicht für einige Zeit verschwunden war, was hier geblüht und gelebt hat. Es ist mir ein großes Anliegen, bei meiner Arbeit aus der Tradition zu schöpfen und zu erforschen, was hat dies mit uns, mit mir zu tun. Wenn dabei etwas noch nie Dagewesenes herauskommt - wunderbar. Das muss es aber nicht unbedingt, denn es geht mir um die Frage, woher kommen wir. Es geht um eine Sprache, die den Menschen an sich in den Mittelpunkt stellt.
Was möchten Sie in Zukunft noch umsetzen?
Weinöhl: Die Ballettkunst hat bereits heute wieder einen anderen Platz im Bewusstsein der Menschen, die in unser Haus kommen, unsere Vorstellungen besuchen. Es ist mir ein Anliegen, dass die Menschen eine Identifikation finden mit dem, was im Opernhaus geschaffen wird, aber auch, dass die Tänzer eine Identifikation mit der Stadt und mit den Menschen entwickeln. Es geht nicht darum, sich selbst zu verwirklichen, es geht um den Dialog mit den Menschen, denn für die erarbeiten und zeigen wir unsere Kunst.
Ihre erste Arbeit in der neuen Saison wird Tschaikowskys "Nussknacker" sein. Warum gerade dieses Ballett?
Weinöhl: Ich glaube, die kommende Saison ist ein guter und richtiger Zeitpunkt, den Nussknacker in Graz zu machen. Ebenso wichtig ist es jedoch, einen neuen Blick auf den "Nussknacker" zu werfen. Es gibt den Text von E.T.A. Hoffmann, der sprachlich faszinierend und wunderschön ist, dann die Sichtweise von Marius Petipa (Choreograf, Anm.) auf das Stück und natürlich die Musik von Tschaikowsky. Und dann gibt es auch meine ganz persönlichen Erfahrungen als Tänzer und auch als Zuschauer. Es soll ein Abend für das gesamte Publikum sein, für diejenigen, die schon 50 Jahre lang ein Abo haben, aber auch für die Kinder. Es geht im "Nussknacker" schlussendlich ja auch um das kindliche Spielen, und diese Kraft der Fantasie dürfen auch wir Erwachsenen nicht vergessen.
Der zweite Ballettabend nennt sich "Kontrapunkt" und ist der Musik von Bach gewidmet.
Weinöhl: Ja, den erarbeite ich gemeinsam mit der spanischen Choreografin Ainara Garcia Navarro. Ausgangspunkt ist Bachs Klaviermusik und einzelne Choräle, die auch gesungen werden. Wir werden einen Abend entwickeln, in dem das choreografische Arbeiten zweier verschiedener Persönlichkeiten auf eine feine Art ineinander verwebt wird und sich in anderen Bereichen deutlich voneinander trennt. Ein spannender Prozess, auf den ich mich sehr freue.
Was erwartet das Publikum sonst noch in der kommenden Saison?
Weinöhl: Die sehr gut angenommene Reihe "ABC des Tanzes" wird weitergeführt und soll tiefere Einblicke in unsere tägliche Arbeit ermöglichen. Es ist eine Art "Sehschule", und ich bin froh über die positive Resonanz, die es dafür bereits gibt. Dann zeigen wir "Solistische Dialoge", in denen einzelne Tänzer Choreografien für ihre Kollegen oder für sich selbst entwickeln. Eine weitere Herzensangelegenheit ist eine Werkstatt zu entwickeln, die die Zusammenarbeit von jungen Komponisten und Tänzern fördert und immer wieder öffentliche Einblicke in den aktuellen Schaffensstand gewährt. Es ist nicht primär das Ziel, dass sofort ein ganzer Ballettabend entsteht, sondern einzelne Phasen sollen dem Publikum das Gefühl vermitteln, was es heißt zu komponieren und zu choreografieren. Dabei geht es dann auch darum, neue Hörgewohnheiten zu etablieren oder Formate zu schaffen, bei denen auch das Gespräch ein wesentlicher Bestandteil ist.
Warum sollte jemand heute noch ins Ballett gehen?
Weinöhl: Ich bin davon überzeugt, dass die Ballettkunst eine ganz große Kraft hat, die Menschen zu berühren und zu faszinieren und dass sie so zu uns allen spricht. Ohne Bewegung herrscht doch Stillstand, oder?
Karin Zehetleitner/APA