Mit "Niemand" wartet das Theater in der Josefstadt am 1. September mit einer ganz besonderen Uraufführung auf - stammt das Stück doch aus der Feder von Ödön von Horvath und war bis vor kurzem völlig unbekannt. Die Wienbibliothek hat das auf 1924 datierte Manuskript im Vorjahr für 11.000 Euro ersteigert. Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger inszeniert den 24 Charaktere umfassenden Text.
Eine dieser 24 Figuren, die durch dieses "Mietshausdrama" geistern, das Horvath mutmaßlich im Alter von 23 Jahren verfasst hat, ist Raphael von Bargen, der den Bruder des Hausbesitzers Fürchtegott Lehmann (Florian Teichtmeister) gibt. Für ihn ist die Produktion eine ganz besondere, zumal Neuentdeckungen selten von heimischen Autoren stammen und vor der Aufführung hierzulande verschiedene Systeme durchlaufen, wie er im Gespräch mit der APA sagt. "Dadurch, dass es eine Uraufführung eines österreichischen Autors ist, ergibt sich ein besonderer interpretatorischer Anspruch, den man sonst nicht so sehr hat. Sonst sind gewisse Ecken bereits ausgelotet, aber hier ist man an dem Punkt, dass man eine Unterschrift unter etwas setzt, das es für alle erst zu erforschen gilt. Die Interpretation des Materials kann sich in künftigen Inszenierungen sehr stark unterscheiden." Schließlich sei das Stück, obwohl es bei einem Verlag angenommen worden war, der später jedoch bankrottging, nicht lektoriert worden.
Jene Änderungen, die Föttinger diesem "Niemand" angedeihen ließ, wären laut von Bargen "auch damals von einem Lektor oder einem Dramaturgen vollzogen worden". "Hier geht es darum, Dinge zu verschlanken oder die jugendliche Textwolle - es ist ein irrsinniger Sturm- und Drang-Text - zu entfernen. Dinge, die wahrscheinlich gar nicht so gemeint waren. Man spürt, dass es hier teilweise um ein Sich-frei-Schreiben von einer Problematik ging. Jetzt gibt es da schon ein paar Striche." Das Grundprinzip des Stücks beschreibt von Bargen mit der Wiederholung von Schicksalen. "Das große Ensemble hat den Reiz - wenn man es durchbesetzt -, dass man feststellt, dass verschiedene Schicksale sich erschreckend ähneln. Es ermöglicht die Betrachtung des Schicksals als kausale Kette, die sich immer wiederholt. Und mit möglichst vielen Leuten wird das besonders deutlich."
Trotz der frühen Entstehungszeit könne man in "Niemand" bereits spätere Horvath-Themen (Stichwort "Glaube Liebe Hoffnung") herauslesen. Seine eigene Figur, die zunächst nur als "der Fremde" und später als der Bruder Kaspar Lehmann auftritt, sei jemand, "der sich mies behandelt fühlt, der hinausgeworfen wurde aus dieser Gesellschaft - in seinem Fall aus dem Elternhaus - und den Versuch unternimmt, sich von Begriffen wie Gewissen und Moralität zu verabschieden". Dabei werde er von der Gesellschaft scheinbar gefressen. "Das Schreckliche an dem Stück ist die schiere Ausweglosigkeit, die einem hier andauernd begegnet", so von Bargen. "Und der ist diese Figur ausgeliefert, das Rad der Wiederholung zieht sich zu, von dem er gesagt hat, er ist davon frei." Mitleidlosigkeit werde in "Niemand" wie ein Schutzschild vor sich hergetragen.
Gerade hier habe er mit Schrecken festgestellt, dass die Zeiten heute "vielleicht gar nicht so anders sind", sagt von Bargen. "Gerade zur Zeit Mitte der 1920er gibt es heute einige recht grausame Parallelen. Die Skepsis den Anderen gegenüber, dieses Bemühen, den eigenen Vorteil zu sichern und zu sehen, wie Menschen Schicksale erleiden und nicht einzugreifen." Aus der Zukunftsangst erwachse "eine erstaunliche Empathielosigkeit, ein unglaublicher Wille, sich nicht auseinanderzusetzen", so von Bargen. Sowohl nach dem Ersten Weltkrieg als auch heute herrsche eine "merkwürdige Haltlosigkeit", beides seien gewissermaßen "vaterlose Generationen". Damals rein physisch, heutzutage mehr durch die Auswirkungen des antiautoritären Erziehungsstils. "Vaterlosigkeit im Sinne einer Klarheit und einer Aufgabenbetreuung, die es einmal gab und nun fehlt."
Und wer ist der titelgebende "Niemand"? Diese Frage beantwortet Raphael von Bargen so: "Es ist im Endeffekt der Ursprung von Religion, der in dem Wort 'Niemand' begründet liegt. Es geht um die Fragen nach den Ursachen. Und je weiter man zurück steigt, desto näher kommt man an das, was wir als Gott bezeichnen. Und natürlich ist das Stück in einer katholischen Tradition geschrieben und stellt verschiedenste Religionsansätze gegeneinander. Es behandelt schließlich die Frage, wer schuld an dem ist, wie wir sind. Haben wir einen freien Willen und wenn ja, hat uns den jemand gegeben? Und die Antwort lautet: niemand."
Sonja Harter/APA