Bilanz von Tag zwei

Auch am zweiten Lesetag hat sich kein klarer Favorit oder keine klare Favoritin herauskristallisiert - auch im Netz nicht. Was sich Burkhard Spinnen bei seiner Eröffnungrede wünschte, trifft auf die fünf Kandidaten nach ihren Lesungen aber zu: die Texte waren vielstimmig. Teilweise auch (zu) traditionell oder (zu) experimentell für die Juroren und so haben sie mitunter eine leidenschaftlich lebhafte Diskussion über die deutsche Gegenwartssprache ausgelöst.

Viel Lob gab es immerhin für die erste Autorin des Tages: Julia Wolf. In ihrem Romanauszug "Walter Nowak bleibt liegen" beschreibt die Deutsche die Gedankenwelt eines 70-jährigen Mannes, der nach einer tödlichen Kopfverletzung, auf dem Fliesenboden liegen bleibt. Jan Snela, der zweite Autor des Tages, hatte weniger Glück, das Urteil der Jury fiel hart aus. "Das ist Karl May des 21. Jahrhunderts" meinte Klaus Kastberger. Isabelle Lehns Text "Binde zwei Vögel" fand im Anschluss durchaus Gefallen und Tomer Gardis titelloser Text über Identitätsfragen in gebrochenem Deutsch spaltete die Juroren, ebenso wie Sylvie Schenks autobiografische Erzählung "Schnell, dein Leben."

Morgen geht es um 10 Uhr mit den vier letzten Autorinnen und Autoren weiter. 3sat überträgt wieder live.

Jurydiskussion: Sylvie Schenk

Stefan Gmünder: "Mich hat der Text, gerade in einer Zeit der Kälte und Oberfläche, sehr beeindruckt." Er lobte die "poetische Weltsicht" - wegen Grundhaltungen wie Solidarität oder Respekt. Meike Feßmann widerspricht: "Der Text kam mir vor wie Schnipsel aus dem Geschichtsbuch." Sie vermisse einen "eigenen Erzählton".

Klaus Kastberger: "Es stellt völlig außer Frage, dass Frau Schenk ein erfahrungsreiches Leben hinter sich habe." Er hätte sich aber gewünscht, dass etwas spezifischer geworden wäre. Der Text sei für ihn erwartbar gewesen. "Ich habe das Gefühl gehabt, der Text wäre schon gelesen bevor er geschrieben war."

Hildegard E. Keller: "Ich lese den Text als autobiografischen Lebensbericht." Es sei eine Art Lebensrückschau aus großer Distanz.

Sandra Kegel geht auf die Verschlagwortung des Textes ein: "Ich finde auch, dass dieser Text eine eindringliche Sprache hat und metaphorisch sehr viel kann." Sie nennt die Differenzen zwischen: Mann und Frau, Stadt und Land, Arm und Reich.

Juri Steiner ortet den Charme der Land-Bourgeoisie. Und Hubert Winkels hat am Text das "Großartige am Einfachen" fasziniert. Er hat die Autorin zum Bachmann-Preis eingeladen.

Jetzt liest: Sylvie Schenk

Sylvie Schenk
Sylvie Schenk © ORF

Die Autorin wurde 1944 in Lyon geboren, veröffentlichte Lyrik auf Französisch und schreibt seit 1992 auf Deutsch. Sie wurde von Juror Hubert Winkels eingeladen. Ihr Porträtvideo: romantische Naturaufnahmen. Ihr Text "Schnell, dein Leben" ist der Auszug eines Romans und Sie finden ihn hier.

Sylvie Schenk erinnert sich in ihrem Nachkriegstext: daran, wie Frauen für ihre Rechte kämpften, Nonnen zugeschlagen haben, Menschen in Großfamilien aufgewachsen sind, an allgegenwärtigen Katholizismus, an gerettete Ziegen in den Bergen und Wanderungen. Ein dichter, unpratentiöser und dabei konsequent traditioneller Text. So ziemlich das größtmögliche Gegenteil zum vorigen Text. Dem älteren Publikum, das neben mir sitzt, gefällt's.

Was die Jury zu Gomers Text sagt

Hubert Winkels: "Beim Hören war es ganz auffallend, dass man den Text jetzt nicht mehr nicht gehört lesen kann." Der Text bestehe aus zwei Elementen: eine auf Broken-German erklärte Geschichte über Mutter und Sohn, die falsche Koffer mitnehmen und die Kleidung aus den falschen Koffern benutzen. Schön, wie Winkels den Text eingangs immer für das Publikum erklärt. Und ab dann wird es philosophisch.

Meike Feßmann: "Mir hat es sehr gut gefallen, Herr Winkels, wie sie den Text beschrieben haben." Auf die harte Diskussion von zuvor folgt also eine zarte. "Wir müssen jetzt darüber diskutieren, ob wir ästhetisch einverstanden sind, das mit den selben Maßstäben zu betrachten wie die anderen Texte." Sie meint: die natürliche Verwirrung der Grammatik. Zur Erinnerung: Gardis Muttersprache ist Hebräisch, er schreibt auf Deutsch.

Stefan Gmünder hatte früher, wie er zugab, selbst Probleme mit Legasthenie, deswegen sei er dem Text von Anfang an positiv gegenübergestanden.

Hildegard E. Keller: "Wie reagieren wir darauf? Ich würde sagen, das ist poetisches Pigdin." Und Klaus Kastberger gibt zu, dass er sich auch schwertue, den Text einzuordnen. "Deswegen habe ich ihn ausgesucht." Er glaubt aber, dass der Text besonders durch sein gebrochenes Deutsch wirke in seiner Dichtheit und Vielfältigkeit. Er halte Tomer Gardis Beitrag für einen "sehr politischen Text". Und: "Die Sprache ist sehr sehr exakt, gerade deswegen weil sie nicht korrekt ist."

Und jetzt: Tomer Gardi

Der 1974 im Kibubuz Dan in Galiläa Geborene liest auf Einladung von Klaus Kastberger. Sein nächstes Buch heißt "Broken German" und wird 2016 bei Droschl erscheinen. Sein Autorenporträt: ein Stillbild ohne Ton. Den titellosen Text zum Nachlesen finden Sie hier.

Tomer Gardi
Tomer Gardi © ORF

In einem gewöhnungsbedürftigen Kunstdeutsch voller defizitärer Grammatik erzählt er in witzigen Sequenzen und starken Passagen von einem Flug mit verpassten Koffern von sich und seiner Mutter, von vertauschten Kleidern und vertauschten Kulturen. Er thematisiert aber viel mehr: den Begriff Muttersprache zum Beispiel, oder Heimat, Herkunft, Identität, kulturelles Erbe.

Er liest seinen Text nicht, sondern performt ihn: chillig, entspannt, mit vielen Kunstpausen.

Konzentriertes Zuhören im ORF-Theater und im Garten. Schönstes Bachmannpreis-Nebengeräusch übrigens auch an Tag zwei: Seitenumblättern.

Pause

So sieht das Pauseninterview von hinten aus. Was bisher geschah - der zweite Vormittag in Tweets:

© KK

Beliebte Pausenbeschäftigung: am Büchertisch schmökern

© JS

Jury-Diskussion zur Lesung von Lehn

Hubert Winkels erklärt noch einmal kurz die diversen Ebenen dieser US-Kriegssimulation in Franken - mit Statisten vom Arbeitsamt. Er finde den Text nah dran an der Realität dieses Themes. Stefan Gmünder habe "wahnsinnige Probleme mit dem Text". Er vermisste die Spannung. "Ich habe diesen Text wenig überraschend gefunden." Vielmehr: er hätte ihn eingeschläfert.

Sandra Kegel ortet einen "Prekariatstext", aber auch Befindlichkeitsprosa. "Das finde ich schade, ich glaube, daraus hätte ein spannender Text werden können." Juri Steiner: "Das ist packende Kunst."

Klaus Kastberger, ein bisschen böse: "Man könnte sich fast vorstellen, dass Frau Lehn und Herr Snela zur Vorbereitung in einem Kurs in einer Schreibschule gesessen sind." Aber: Bei Lehn finde er das deutlich besser gelungen. Die Tonart und Ernsthaftigkeit gefallen ihm.

Hildegard E. Keller findet den Text solide gearbeitet. Und: "Intensives Grau".

Mittagspause. Um 13.30 Uhr geht es weiter.

Und nun: Isabelle Lehn

Autorin Isabelle Lehn
Autorin Isabelle Lehn © ORF

Die deutsche Autorin und promovierte Rhetorikerin Isabelle Lehn wurde ebenso von Meike Feßmann geladen. Ihr Text heißt "Binde zwei Vögel zusammen" und Sie können ihn hier lesen. Das Video zeigt Ausschnitte aus Leipzig, wo die 1979 Geborene auch lebt.

Lehn startet mit "Catcontent". Erster Satz: "Zu Hause wartet die Katze auf uns." Und fortan erzählt sie von einer Kriegssimulation, einer Afganistan-Situation irgendwo in Deutschland. Ansonsten: schwierig zu durchschauen.

Was die Jury zu Text von Snela sagt

Hubert Winkels bereitet der Text  "Unbehagen". Radikal gesagt sei der Text aber einer für Pegida, arabische Ausdrücke. Jan Böhmermann verfahre gleich. Hier habe der verkleisterte Orientialismus Ähnliches im Sinn. "Das ist ein Spiel mit Ängsten, das ich misslungen finde, auch wenn ich die Absicht dahinter sehe."

Meike Feßmann, sie hat Jan Snela eingeladen, verteidigt das: "Alle drei Figuren tragen Turban, keine Figur ist nur positiv oder negativ besetzt." Sie hätte bei dem Text gelacht, jede Szene hätte einen Dreh. Die Grundhaltung Jan Snelas sei: "Es ist immer ein junger Mann, der von seiner Freundin verlassen worden ist." Sie nennt den Text: "sprachlich umwerfend."

Klaus Kastberger glaubt nicht, dass das ein Text für Pegida oder die FPÖ ist, die lesen keinen Text, der länger als fünf Seiten ist. "Er macht es sich wirklich zu einfach, dieser Text." Es gehe ihm auf den Wecker, dass er jedes dritte Wort googeln müsse. "Diese Schickheit von dem Ganzen widerstrebt mir: da geht es um eine ernste Sache." Und: "Das ist Karl May des 21. Jahrhunderts."

Heiße Diskussion, konfrontativer Text

Hildegard E. Jeller: "Für mich ist dieser Text in enger Verschwandhaft, mit dem Text, den wir gestern hatten, jenen von Sascha Macht." Sie habe nichts gegoogelt, widerspricht Kastberger und fragt diesen: "Wie halten Sie es mit den Kamelen, Herr Kastberger?"

Stefan Gmünder habe den Text als "reine Karl-May-Parodie" gelesen, sei aber nach der Diskussion nicht mehr sicher, ob er ihn richtig verstanden habe. "Ich habe ihn nicht so lustig gefunden."

Und nun: Jan Snela

Der Tübinger liest auf Einladung von Meike Feßmann beim Bachmann-Preis. Sein Erzählband "Milchgesicht. Ein Bestiarium der Liebe" ist im Frühjahr 2016 bei Klett-Cotta erschienen. Ein klassisches Video-Porträt - das hat heuer Seltenheitswert. Den Text "Araber und Schakale" finden Sie hier.

Snela entführt seine Leser in ein Beduinengebiet, mit vielen vielen selten benutzten Wörtern wie zerziselieren oder koagulieren erzählt er vom orientalischen Supermarktbesuch, vom Mokka-Trinken oder Schakalen. Ein vollbepackter, adjektivschwangerer Text. Gestern mochte so etwas die Jury nicht.

Prominenter Sargnagel-Fan

Und derweil auf Twitter:

Die Jury über den Text von Julia Wolf

"Die Sprache hat einen Drive", lobt Sandra Kegel den Text, den sie weit über Mittelmaß ansiedelt. "Es passt unheimlich viel in den Text hinein." Auch Stefan Gmünder ist beeindruckt: u.a. von der "Zeitökonomie". Der Text sei "sehr fein gearbeitet. "Große Transformationsgeschichte" ortet Juri Steiner nach der Lesung von Julia Wolf. Ihn fasziniert, dass eine junge Autorin über einen 70-jährigen Mann schreibe und dessen männlichen Körper. Es folgt ein kurzer Diskurs über Delfine. "Der Lebenstrieb siegt", auch das gefalle ihm, sagt Steiner.

Hildegard Keller über das Thema: "Nicht unpassend am Wörthersee." Für die Jurorin funktioniere der Text, vor allem der erste Teil, als Hörtext. Die Stimme des 70-Jährigen habe sie beim Selberlesen ganz anders gehört. Meike Feßmann findet die Kombination zwischen Video und Text spannend und, "dass sich eine junge Frau in einen alten Männerkörper hineinimaginiert."

Klaus Kastberger: "Der Text bedient eine klassische Erzähltradition." Er langweile nicht. "Ich habe das Gefühl, dieser Text auch schon vor 25 Jahren hier gelesen werden könnte." Der Text sei "wohltuend altmodisch". Der große Vorteil: Er könne auch noch in einem Vierteljahrhundert gelesen werden. "Kein risikoreicher Text, aber gute Literatur."

Erste Autorin: Julia Wolf

Erster Eindruck: Ich. Ich. Ich. Wolf erzählt von einer Frau namens Yvonne, deren Rückkehr sehnlichst erwünscht ist, während in Gedanken Schwimm-Bahnen im Wasser gezogen werden. Es geht um einen 70-jährigen alten, verwundeten Mann, der nackt auf Schwimmbadfliesen liegt. Abgehackte Sätze, rhythmischer Text, viele Begegnungen mit Körperhaaren, gut gelesen.

Vögel, Haare, Rhododendron - scheint ein heuriges Bachmann-Motiv in den Texten zu sein.

Guten Morgen! Der zweite Lesetag startet gleich mit der deutschen Germanistin und Autorin Julia Wolf. Der Debütroman der 1980 Geborenen heißt "Alles ist jetzt" und erschien im Vorjahr in der Frankfurter Verlagsanstalt. Ihr Text heißt "Walter Nowak bleibt liegen" und er ist das erste Kapitel ihres neuen Romans - zum Nachlesen hier.

Ihr sehr spezielles Videoporträt: Szenen alter Männern in Badehosen vor blauen Minifliesen. Hat was. Sie finden Autorenbeschreibung und Video hier.

Julia Wolf
Julia Wolf © ORF

Andrang

Großer Andrang schon um 9.30 Uhr auf die Plätze im ORF-Theater. Wer die Räumlichkeiten nicht kennt: Die Leute auf der Stiege (siehe Foto) stehen am Ende einer langen Schlange, die oben auf der Galerie bis zum Eingang geht.

Andrang beim Bachmann-Preis
Andrang beim Bachmann-Preis © Fischer

Für Spätentschlossene: Dem Wettlesen kann man auch gemütlich im Liegestuhl zuhören - im Lendhafen.

Schattenplätzchen im Lendhafen
Schattenplätzchen im Lendhafen © KK

Was gestern passierte

Bürgermeisterinnenempfang

Donnerstag Abend fand im Loretto der traditionelle Bürgermeisterinnenempfang für die Gäste des Bachmann-Preises statt. Der starke Wind konnte der entspannten Stimmung, die gestern Abend im Loretto-Schlossgarten herrschte, nichts anhaben. Autorinnen und Autoren, die Bachmann-Jury mit ihrem Vorsitzenden Hubert Winkels und zahlreiche Gäste aus der deutschsprachigen Literaturszene genossen den Abend bei Musik des Trio MEM (Michael Malicha, Michael Erian und Klemens Marktl).

Stimmungsvoller Ausklang des ersten Lesetages
Stimmungsvoller Ausklang des ersten Lesetages © Puch Johannes/Stadtpresse

Klare Favorit

Einhellige Favoriten zeichneten sich am gestrigen äußerst vielstimmigen ersten Lesetag der 40. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt nicht ab. Stefanie Sargnagelüberzeugte aber gleich mehrere Jurymitglieder und ihre Fans im Netz von ihrem Text "Penne vom Kika" und Marko Dinic Kriegserinnerungen aus Sicht eines Kindes erhielt ebenso ordentlich Lob.

Heute auf dem Lese-Programm im ORF-Theater Klagenfurt:

Zur Erinnerung: Diese Kandidten stellen sich der siebenköpfigen Jury um Meike Feßmann, Stefan Gmündner, Hildegard E. Keller, Hubert Winkels, Juri Steiner, Sandra Kegel und Klaus Kastberger.

Und noch ein Video des gestrigen Abends, das wir Ihnen nicht vorenthalten möchten: