Fazit nach Tag eins

Ein klarer Favorit oder eine klare Favoritin auf den Ingeborg-Bachmann-Preis lässt sich nach dem ersten Lesetag im ORF-Theater Klagenfurt nicht ausmachen: kein Text wurde einhellig von allen sieben Jury-Mitgliedern gelobt. Die Inhalte der vorgetragenen Texte waren so vielstimmig, wie sie sich Burkhard Spinnen, bei der Eröffnungsrede wünschte: Es ging um Nudeln, Kriegsverbrechen, einen Hasen oder Schuhstücke.

Viele positive Stimmen erhielten die Wiener Kultfigur, Autorin und Illustratorin Stefanie Sargnagel für ihren Text "Penne vom Kika" sowie Marko Dinić für seinen eindringlichen, leidenschaftlich vorgetragenen Romanauszug „Als nach Milosevic das Wasser kam“. Darin erinnert sich ein Maturant an das NATO-Bombardement von Belgrad im Jahr 1999.

Sascha Macht  „Das alte Lied von Senor Magma“ fiel eher für seinen Katastrophentext durch. Bastian Schneiders fragmentarischer, teils unzusammenhängender Text über diverse Stücke spaltete die Juroren, genauso wie Selim Özdogans Hasen- und Vatermordgeschichte "Ein geheimer Akkord." Morgen geht es um 10 Uhr weiter, 3sat überträgt live.

Und noch einmal zur Erinnerung: Das sind die 14 teilnehmenden Autorinnen und Autoren 2016:

Die Jury-Diskussion

Ein starkes, tollkühnes Stück - nennt Hildegard E. Keller den Text. "Ich will diesen Hasen gar nicht enträtseln, ich will ihn einfach hoppeln lassen: ein Zauberstück." Hubert Winkels: "Man fragt sich ein bisschen, was dieses durchaus geistreiche und humorvolle Spiel" anrichtet - abseits des Vorgelesenwerdens. "Da wird dicke Post geliefert", wirft Juri Steiner ein.

"Ich zweifle an der Zauberkraft des Hasen", sagt Klaus Kastberger nüchtern. Nette Anekdote: Als er diesen Text das erste Mal im Garten in Graz gelesen hatte, hoppelte tatsächlich ein Hase vorbei und naschte vom Rucola. Spaß beiseite: Kastberger wisse nicht, was ihm der Text erzählen will. "Mir ist der Hase nach kurzer Zeit auf den Wecker gegangen." Dafür Lob für den bisher besten ersten Satz: "Nach zwölf Jahren ist der Hase verschwunden." Dabei, so der Chef des Grazer Literaturhauses, hätte es der Autor lieber mal belassen sollen. Sandra Kegel kritisiert die banalen Frauenfiguren.

Nummer fünf: Selim Özdogan

Den heutigen ersten Lesetag beschließt Selim Özdogan, er liest auf Einladung von Stefan Gmünder. Den Text des Kölner Autors finden Sie hier.

Özdogan erzählt im Text "Ein geheimer Akkord" eine liebenswerte Geschichte über einen bösen Autorenvater und einen Hasen im Kopf des Autors. Schon wieder Ich-Perspektive und erneut ein Text über Literaten. Dafür gibt es Referenzen zu Leonhard Cohen und eben Hasi. Und: Es fallen die Worte "Urheberrechtsdebatte".

Das erste Video derweil: Stefanie Sargnagel bilanziert ihre Lesung beim Bachmann-Preis:

Stefanie Sargnagel nach der Bachmann-Lesung

Die ersten Bilder aus Klagenfurt:

Was die Juroren sagen

Was sagt die Jury über die 29 collageartig arrangierten Stücke? Sandra Kegel nennt sie "literarische Stillleben". Sie nennt eine getragene Stimmungslage, "eine genäßigte Affektstufe". Die Stücke würden, so Kegel, wie Fragmente für sich stehen. Meike Feßmann rät dem Autor, "noch ein bisschen zu üben." Sie finde das "Schuhdings" abgelatscht und urteilt hart mit dem Begriff: "Bedeutungsschubkarre". Klaus Kastberger bilanziert: "Über Kurzprosa kann man lange nachdenken. Der Text gibt wenige Antworten." Ihm gefalle aber die schnörkellose, kühle Form der Kurzprosa. Stefan Gmündner verteidigt die "Stimmigkeit" des Textes.

Hildegard E. Keller sei mit so einem Text noch nie beim Bachmann-Preis konfrontiert. Die Qualität der Stücke sei sehr unterschiedlich. Sie fragt sich, ob die Leitmetapher des Mezzanins, des architektonischen Zwischenstocks, in Kombination mit den bewegenden Beschreibungen eine gelungene ist.

Hubert Winkels kritisiert das Pizzastück als "unangenehm heftig":

Und nun: Bastian Schneider

Nach der Mittagspause geht es mit der vierten Lesung des ersten Tages weiter: mit dem Deutschen Bastian Schneider, dessen Prosadebüt "Vom Winterschlaf der Zugvögel" im Frühjahr 2016 im Sonderzahl Verlag erschien. Der Autor lebt auch in Wien. Sein Text heißt "MEZZANIN" und Sie finden ihn hier.

Hübscher Einstieg:

Schneider serviert dem Publikum arrangierte, pointierte und lyrische Stücke: Schuhstück, Engelsstück, Suppenstück, Piratenstück, Friedhofsstück, Stöckelstück. Unaufgeregt, poetisch, metaphernstark. Ihm zuzuhören, ist wirklich angenehm. "Wo endet das Zitat, wo beginnt die Zikade?" fragt er etwa in "Singstück".

Jury-Diskussion

Der Autor selbst bilanziert seinen Auftritt so:

Hubert Winkels bedankt sich für den "gut vorgelesenen Text". Er finde das "streng gezeichnete Bild in der Beschränkung" gelungen.

Jurorin Meike Feßmann sieht darin eine "auch ganz normale Coming-of-Age-Geschichte", die einen weiten Raum aufmache. Wir würden unglaubliche Schattierungen dieser Zeit erleben.

Juri Steiner sieht ein bisschen Sentimentalität, die er nicht ganz nachvollziehen könne und es fällt das Wort "unterkomplex". Stefan Gmündner war "schon beim ersten Lesen von dem Text eingenommen." Sandra Kegel gefällt, dass der Text "im Gehen" erzählt werde. Zudem lobt sie die "eindringlichen Bilder" des Textes. Klaus Kastberger, der den Autor ja eingeladen hat, lobt, "dass der Erzähler zum Schluss kommt." Fazit: Der Jury gefällt der Text und dessen Thema. Nur Klaus Kastberger überzeugte die Lesung im stillen Lesen mehr.

Hildegard E. Keller: "Unüberhörbar dieser Halbstarke mit seinen Posen." Aber: Sie habe schon beim stillen Lesen, das die Verkörperung des Textes wahrgenommen, einen Bruch: Der heiße Hass auf alles gehe nicht zusammen mit dem kühlen Blick mit der Vergangenheit.

Und derweil hat Stefanie Sargnagel das erste Posting nach ihrer Lesung abgegeben:

Und nun: Marko Dinić

"Als nach Milošević das Wasser kam" ist ein politischer Text, den Dinić leidenschaftlich und mit lauter Stimme im Stehen liest und zwischendurch auch singt. Er thematisiert Krieg aus Kindersicht als 1999 die ersten Bomben auf Belgrad fielen und die Kinder sich aus den internationalen Sanktionen für die Republik Jugoslawien ein großes Spiel machten. Ein Text im Reportagestil: eindringlich und mit starken Bildern. 

Auffällig: es ist der dritte Beitrag, der aus der Ich-Perspektive erzählt.

Auch draußen wird gerade konzentriert zugehört und mitgelesen:

Marko Dinic
Marko Dinic © ORF

Marko Dinić wurde 1988 in Wien geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend aber in Belgrad. 2008 kehrte er nach Österreich zurück, studierte Germanistik und Jüdische Kulturgeschichte in Salzburg, wo er noch immer lebt. Seinen Text gibt es hier zum Nachlesen.

Die Jury-Diskussion

Viele, viele Kritikpunkte am Text von Sascha Macht.

Meike Feßmann irritiert die Form des Ich-Erzählers: "Er redet in einer Art und Weise, als würde er in den 1950er-Jahren liegen." Sie sei ertäuscht gewesen, dass der Text so müde ausfüllt. Und es fällt das Wort "sturzlangweilig".

Klaus Kastberger: "Im Laufe des Textes wird es mit dieser Bedeutungsschwere und Zuordnungen ein bisschen viel auch." Könne der Dekan nicht einfach Franzi heißen. Er heißt aber: Agamemnon Theissen.

Sandra Kegel: Ich habe den Diaprojektor vielleicht das letz. "Das Text atmet in jeder Ritze das Katastrophische, Apokalyptische - und es wird sprachlich nur über die Namen Exotik hergestellt." Ansonsten sei der Text ohne Wortgewitter und habe einen "seltsamen Konservatismus."

Hubert Winkels versucht, etwas Positives zu sagen: "Eine vollkommene Überdetermination mit Katastrophenszenarien" sei nachvollziehbar, "aber das müsste man anders erzählen." Fazit: "Der Text blockiert sich selber."

Jetzt wird es spannend. Wie verteidigt Hildegard E. Keller die Einladung? "Die zentrale Bedeutung dieser sehr präzisen Sprache" sei, dass die Literatur erkundet werden mit dem imaginären Auge. Der Text fordere die Leser auf, mitzugehen.

Sascha Macht liest

Der Text führt uns an die Philosophische Fakultät und ist das Gegenteil vom Auftakttext von Stefanie Sargnagel. Geplant, beschreibend, bemüht, konstruiert und ein bisschen ermüdend. Es fallen viele Pflanzennahmen wie: Rhododendronstrauch und überbordend viele Adjektive und Adverben. Ob das der Jury gefällt? Das Publikum scheint ein bisschen, ähm, hypnotisiert - nicht unbedingt im positiven Sinne.

Übrigens: Was die Statistik über den ersten Lesetag und die Gewinnerchancen sagt, entnehmen Sie dieser Aufstellung:

Der Deutsche studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Im Frühjahr erschien sein erster Roman "Der Krieg im Garten des Königs der Toten" bei DuMont Buchverlag. Zum Text "Das alte Lied von Señor Magma" geht er hier lang. Und die Stimme im hübschen Video stammt vom Autor selbst.

Zwischenruf und weitere Diskussion

Ungewöhnlich: Stefanie Sargnagel meldet sich während der Diskussion kurz zu Wort. Normalerweise schweigen die Autoren ja lieber. Sie erklärt nur kurz, dass es ihr auch um Gebrauchtstexte gehe. Dann ist wieder Klaus Kastberger am Wort, dem der Text gut gefallen hat. "Am Anfang hat mich der Text mit den Wortbildern gut gefallen", sagt Stefan Gmünder, aber ab dem Mercedes-Teil würde er flacher werden. Aber der Text hat ihn "überrascht" und er ist viel "zufriedener damit als erwartet". Im Netz wird heftig über den Text und die Jurydiskussion weiterdiskutiert.

Die Jury

Jury-Vorsitzender Hubert Winkels macht den Auftakt und findet das einen "heftigen" Auftakt. Es sei zweierlei: Einerseits ein Text über das Schreiben eines Textes für den Bachmann-Preis und andererseits das Gegenteil davon - nämlich raus aus der Hochkultur und hinein in dreckige Gegenden und Körperlichkeit. "Es ist nicht ganz neu, aber gut gemacht, Respekt." Sandra Kegel findet ebenfalls, dass das gut gemacht sei in seiner Metaphorik und in seiner Fokusierung auf das eigene Ich. Der Text verhandle den Wechsel zwischen "Kreation und Depression", zwischen der Selbstdarstellung und Selbsterfindung und der Erschöpfung und Unruhe, die dabei entstehen würde. Außerdem gäbe es "unglaubliche Milieuschilderungen".

Meike Feßmann findet, dass die Erzählerin in einen "Quasselmodus" fällt, den sie nicht mehr bremsen kann - und die Komik würde auch nicht funktionieren. Und auch

10.20 Uhr:

Es wird geschmunzelt und gelacht im Garten, während Stefanie Sargnagel liest. Das ist schon einmal ein gutes Zeichen. Im ORF-Theater: dichtes Gedränge.

Stefanie Sargnagel erzählt von einem ganz normalen Tag, von Liebeskummer, Leiden, Lieben, Singen, Trinken, Zeitotschlagen, um Wien, um Blutlachen, um Sandler am Herrenklo. Es geht um sie. Es fallen viele Schimpfwörter, viele Dialektbegriffe.

Und: Es wird spannend, wie der Text bei der Jury ankommt.

Und nun: Stefanie Sargnagel

Stefanie Sargnagel präsentiert sich mit einem interessanten Video, in dem sie unter anderem erzählt, dass sie von ihrer Mutter in einer Hofer-Filiale gefunden wurde. Generell werden die Videos immer wichtiger und schon lange gehen die Autoren davon weg, einfach nur ein Porträt vorzulegen. Viele nutzen es zu einem Statement - oder wohl auch, um die Juroren auf den Text vorzubereiten.

Los geht es

Los geht es: 3sat startet die Übertragung, insgesamt 960 Minuten wird live übertragen. Heuer geht das Wettlesen um den Bachmann-Preis bekanntlich in das 40. Jahr - bemerkenswert, wie lange sich das Format gehalten hat.

Das ist die Jury

Die Juroren
Die Juroren © Helmuth Weichselbraun

Die Jury ist unverändert gegenüber dem Vorjahr. Den Juryvorsitz hat wieder Hubert Winkels, der seit 1988 Literaturkritiker für "Die Zeit ist". Klaus Kastberger (A) leitet das Grazer Literaturhaus, Sandra Kegel (D) ist Redakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Stefan Gmünder (A/CH) Literaturredakteur des "Standard". Mit dabei sind auch wieder Juri Steiner (CH), seit 2010 Mitglied Sternstunde Philosophie (Schweizer Fernsehen) und Meike Feßmann (D), die vor allem für die "Süddeutsche Zeitung" sowie den "Tagesspiegel" Literaturkritiken schreibt. Hildegard Keller (USA/CH) ist Professorin für deutsche Literatur an den Universitäten Bloomington Indiana/USA sowie Zürich.

Stefanie Sargnagel bei der Auslosung
Stefanie Sargnagel bei der Auslosung © Helmuth Weichselbraun

9.55 Uhr

Das ORF-Theater ist voll, der Garten füllt sich auch schön langsam. Als erste Autorin geht ´heute gleich die einzige Österreicherin Stefanie Sargnagel ins Rennen. Sie wurde 1986 in Wien geboren. Als Mitarbeiterin eines Callcenters begann sie unter dem Künsternamen Sargnagel Kurztexte für das Internet zu schreiben, mit denen sie schnell populär wurde. Als sie bei der Eröffnung den unbeliebten ersten Startplatz zog, entkam ihr ein "Oh nein". Moderator Christian Ankowitsch beruhigte: "Statistisch gesehen ist das weder von Nachteil noch von Vorteil".

Ein Rückblick auf die gestrige Eröffnung