Es erinnert an Schulskikurs: ewige Busfahrten, Essenslisten-Chaos, bezaubernde Bekanntschaften, Rollenverteilung von Anführer bis Außenseiter - und viele Überraschungen. Nur: Hier wird niemand zum Buckelpistenfahren genötigt.
Die Vermessung
Es ist ein Wagnis. Eine europaweite Vermessung experimentierfreudiger Dichtkunst von vier Institutionen wie dem Forum Stadtpark. Insgesamt 100 Poeten aus 37 Ländern erforschen zeitgenössische, widerborstige, unbekannte Literatur und ihre zugehörigen politischen Landschaften. Seit zweiten Mai rollt ein Bus mit wöchentlich je acht Literaturaktivisten durch Europa, am 24. Juli wird die bunte Reisegesellschaft in Zypern ankommen. Derzeit pendelt der Poesie-Trupp durch Österreich. Erster Halt: Altaussee.
Pärchen besetzen die besten Panoramabankerln am See, Tretboote schaukeln im Wasser, Wolken streicheln den Loser. Organisator Nikolaos Zachariadis wickelt sacht eine Papyrusrolle auf. Ein Satz springt einem ins Auge: "So lange wir noch miteinander sprechen, wird es ein Morgen geben." Er stammt vom Norweger Birger Emanuelsen. Es ist sein poetisch politischer Fußabdruck in diesem wachsenden Manifest. Vieles könnte man in diesen Satz hineininterpretieren, in einem Europa, in dem Tausende über Grenzen fliehen und Jahre nach dem Niederreißen plötzlich wieder Zäune zwischen Staaten aufgestellt werden.
Analog und digital
Die Tour ist die, in Bussitzen oder an Barhockern aneinandergekuschelt, analoge, vielleicht auch altmodische Art der Vernetzung: Wo Chris Tanasescu, ein rumänischer Forscher (Künstliche Intelligenz) und Autor, mit dem naturverbundenen Poesie-Kollegen Jenan Selçuk aus Zypern sprachliche Gemeinsamkeiten entdeckt.
Es ist ein Lernen, wenn die jüngeren Reisenden der niederländischen Vocal-Legende Jaap Blonk zuhören oder der Litauer Benediktas Janusevicius erzählt, dass seine Arbeit auf dem Gebiet der experimentellen, grafisch aufbereiteten Literatur lange Zeit eine einsame war. Es ist auch eine Begegnung mit literaturfernerem Publikum am Land - bei Lesungen in Schulen oder Almhütten. Und ein Eintauchen in lokal gefärbte Literatur - "Wer hat ein Gedicht über Gloggnitz geschrieben?", fragt Mathias Traxler, als er das Ortsschild sieht - und gelebten Wortwiderstand.
Im literaturgewichtigen Altaussee darf eine Person nicht fehlen: Barbara Frischmuth. Die Autorin begründete als einzige Frau das Forum Stadtpark mit. Sie, die Okzident und Orient sprachlich erforscht und bereist hat und seit 1999 wieder hier lebt, führt die Poeten durch das Literaturmuseum, von ihr zärtlich "Kuriositätenkabinett" genannt, das gleichzeitig Amts- und Kurhaus ist. Ein winziger Ort, vollgepackt mit großen Namen (z. B. Friedrich Torberg, Theodor Herzl, Arthur Schnitzler) und hinreißenden Anekdoten: Frischmuths Mutter versuchte die Tochter mit folgendem Poem zum Essen zu motivieren: "In der Nudelsuppe spiegelt sich die Dachsteingruppe."
Wie politisch die experimentelle Literatursuppe ist, will das Internationale Symposium (siehe Info) am Freitag und Samstag in Graz klären. Die Bus-Poeten performen. Die Fortsetzung der Vernetzung folgt: digital.