Am Sonntag könnte in New York Geschichte geschrieben werden: Dann werden im Beacon Theatre direkt am Broadway zum 70. Mal die Tony Awards verliehen, die wichtigste Auszeichnung für Musical und Theater in den USA. In diesem Jahr richten sich alle Augen auf ein einziges Stück, dessen Idee zunächst furchtbar klingt, das aber einen seit Jahrzehnten nicht gesehenen Rummel auslöst: "Hamilton".

Mit einer Mischung aus Hip-Hop, Musical und Pop wird darin die Geschichte des Einwanderers Alexander Hamilton erzählt, dem ersten Finanzminister der USA. 16 Mal ist das Musical für einen "Tony" nominiert, ein historischer Rekord. Gewinnen kann "Hamilton" 13 Auszeichnungen, denn bei den besten männlichen Haupt- und Nebenrollen sind gleich mehrere Schauspieler aus dem Stück nominiert. Den bisherigen Rekord hält "The Producers" mit 12 Siegen.

Preisregen ohne Ende

Es wäre ein weiterer Höhepunkt in der beispiellosen Geschichte des seit August am Broadway laufenden Stückes. Es hat bereits den Pulitzer-Preis als bestes Drama gewonnen, das zugehörige Grammy-prämierte Album hat Platinstatus, ein 40 Dollar (35 Euro) teures Begleitbuch wurde laut "New York Times" mehr als 100.000 Mal verkauft. Prominente von Barack Obama über Hillary Clinton bis hin zu Beyoncé Knowles und Paul McCartney brüsten sich damit, im Publikum gesessen zu haben. Tickets sind auf Monate hinweg ausverkauft, in den Schwarzmarktbörsen im Internet gibt es kaum Plätze unter 1.000 Dollar (890 Euro). In der Warteschlange vor dem Theater campen Fans mehrere Nächte in der Hoffnung auf zurückgegebene Karten.

Die Stars des Stücks sind seit Monaten Dauergäste im US-Fernsehen, allen voran Lin-Manuel Miranda, Ideengeber, Komponist, Librettist und Hauptdarsteller in einem. Kritiker feiern ihn und seine Arbeit nicht nur dafür, dass seine vielseitige Musik und Inszenierung das Stück sowohl für Rap- als auch für Musicalfans zugänglich machen. Sie loben auch, wie die Geschichte über den getriebenen und ehrgeizigen Politiker jedem Zuschauer die Frage stellt, was er oder sie selbst hinterlässt.

Die Vision eines offenen Amerikas

Und dem Trump-geplagten Teil der USA bietet "Hamilton" noch mehr: eine Vision davon, wie ein offenes Amerika aussehen könnte, an dessen Geschichte nicht nur die Weißen beteiligt sind. Bejubelt wird Mirandas Entscheidung, die Rollen mit Schauspielern verschiedenster Herkunft zu besetzen. Nach der Debatte über die "weißen" Oscars, bei denen in wichtigen Kategorien keine Farbigen nominiert waren, ist das popkulturelle Amerika nun froh, auf die große Vielfalt bei den Tony Awards verweisen zu können. Von 40 Nominierten seien 14 nicht weiß, rechnet das Online-Magazin "mic" vor.

"Im vergangenen Jahr war der Broadway vielfältiger als je zuvor", bilanziert auch Bob Hofmann, Vizepräsident von Broadway Inbound, einem der wichtigsten Ticket-Großanbieter für nationale und internationale Reisegruppen, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. "'Hamilton' mag den stärksten Eindruck hinterlassen, aber auch Stücke wie 'Die Farbe Lila' oder 'Fun Home' zeigen, dass Look, Sound und Gefühl auf Broadwaybühnen aktuell sehr stark moderne Kultur repräsentieren - endlich", sagt er mit Blick auf die Adaption des Bürgerrechtsdramas und ein gut laufendes Stück über Patchwork-Familien.

Und dann gibt es noch ...

Bei all dem Trubel um "Hamilton" fallen die anderen Nominierten fast hinten über: Besonders häufig vorgeschlagen ist auch "Shuffle Along", ein Stück-im-Stück über die Entstehung eines Schwarzen-Musicals in den 1920er-Jahren, mit zehn Nominierungen. Bei den Theaterstücken führt "Long Day's Journey Into Night" ("Eines langen Tages Reise in die Nacht") mit sieben Nominierungen, unter anderem für Schauspielerin Jessica Lange ("American Horror Story"). Auf einen Preis hoffen kann auch Lupita Nyong'o, Oscar-Gewinnerin für "12 Years a Slave", die im Liberia-Drama "Eclipsed" auf der Broadway-Bühne steht.

Nicht nur wegen des Hamilton-Hypes hoffen die Veranstalter auf gute Quoten: Bei der auf NBC ausgestrahlten und vom britischen Late-Night-Talker und Schauspieler James Corden moderierten Show soll auch die üblicherweise kaum öffentlich auftretende Barbra Streisand einen der Preise überreichen - die Show wird ihr aber vermutlich ein vor 212 Jahren gestorbener Politiker stehlen.