Nora Schmid, die neue Intendantin der Grazer Oper, hat für diese einen Spielplan entworfen, der erfreulich oft auf die Geschichte des Hauses Bezug nimmt. Ihre erste Direktion eröffnete sie mit einem Schlüsselwerk des Fin de Siècle, mit dem "Fernen Klang" von Franz Schreker, der am 22. Mai 1924 in der Grazer Oper unter der musikalischen Leitung von Heinz Berthold in einer Inszenierung von Friedrich Neubauer seine österreichische Erstaufführung erlebt hatte.
Die triumphale Uraufführung seiner ersten abendfüllenden Oper am 18. August 1912 in Frankfurt hatte den damals 34-jährigen Wiener Komponisten in den deutschen Opernhimmel katapultiert: In den zwanziger Jahren standen seine Musikdramen öfter auf den Spielplänen als jene von Richard Strauss. Schrekers Stern begann aber früh zu sinken. "Der ferne Klang", der gar nicht seine populärste Oper war, aber von Pultgrößen wie Bruno Walter, Alexander von Zemlinsky, Otto Klemperer, Fritz Reiner und Erich Kleiber dirigiert wurde, erlebte zwischen 1912 und 1924 nicht weniger als 18 verschiedene Inszenierungen, zwischen 1924 und 1931 wurden nur noch zehn Neuproduktionen registriert.
Von den Nazis, die den Komponisten 1932 zum Rücktritt als Direktor der Berliner Musikhochschule gezwungen hatten, mit Aufführungsverbot belegt, blieben die Werke von Schreker auch nach dem Zweiten Weltkrieg verpönt, weil die jetzt tonangebende Avantgarde der seriellen Darmstädter Schule deren narkotisierende Klangsinnlichkeit mit Verachtung strafte. Erst 1964 erlebte "Der ferne Klang" in Kassel seine erste Nachkriegsinszenierung.
Zu einer Neubewertung des Komponisten führte erst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Franz Schreker, für die der Grazer Musikologe und Komponist Gösta Neuwirth mit seiner Schreker-Monographie von 1959 und vor allem mit seiner 1972 publizierten Dissertation "Die Harmonik in der Oper 'Der ferne Klang' von Franz Schreker" die wesentlichen Grundlagen geschaffen hatte. Neuwirth war denn auch einer der Initiatoren der Schreker-Retrospektive des Grazer "musikprotokolls" im "steirischen herbst" 1976, bei deren wissenschaftlichem Symposion er als einer der Hauptreferenten auftrat, und zu deren Höhepunkten die von Ernst Märzendorfer dirigierte, im zweiten Akt leider gekürzte konzertante Aufführung des "Fernen Klangs" mit Maria de Francesca, Eberhard Büchner und Claudio Nicolai am 14. Oktober in der Grazer Oper zählte.
Musikalische Luxusdroge
Jetzt ertönt "Der ferne Klang" wieder in der Grazer Oper und fasziniert durch seine expressive Schwüle und seinen erotischen Rausch ebenso wie durch seine damals bahnbrechende Konzeption, die Grenzen zwischen Bühne, Orchestergraben und Zuschauerraum niederzureißen und das Publikum im zweiten Akt mitten in das Geschehen zu versetzen. Das funktioniert glänzend, weil Dirigent Dirk Kaftan die Musiker auf der Bühne, im Graben und auf der Galerie sowie den in den vorderen Logen auftretenden (von Bernhard Schneider optimal vorbereiteten) Chor souverän koordiniert. Die Grazer Philharmoniker und ihr Chefdirigent bleiben dieser schillernden Partitur, die das Orchester ins Zentrum rückt, keine ihrer vielen Facetten schuldig. Kaftan lässt Schrekers irisierende Klänge schwelgerisch aufblühen, findet die richtige Balance zwischen Sinnlichkeit und Seele, mischt mit seinen Instrumentalisten eine betörende orchestrale Luxusdroge.
In Florentine Kleppers Inszenierung, die sowohl die Künstlertragödie des Komponisten Fritz als auch das mehrfache Verpassen von Fritz und Grete ziemlich klar erzählt und dabei auch Schrekers Aufgreifen der tiefenpsychologischen Zeitströmungen szenisch akzentuiert, bewährt sich ein ebenso großes wie weitgehend homogenes Ensemble. Johanni van Oostrum kann Gretes Entwicklung vom naiven Mädchen zur selbstbewussten Edelkurtisane mit blühendem Sopran glaubwürdig und flexibel nachvollziehen. Mit weichem tenoralem Schmelz wartet Daniel Kirch als Fritz auf. Das neue Ensemblemitglied Markus Butter verleiht mit markigem Bariton dem Dr. Vigelius prägnantes Profil und singt als Graf im zweiten Akt die Ballade von der glühenden Krone, in der er die Künstlertragik als symbolistisches Märchen erzählt, mit dunkler Eindringlichkeit. Taylan Reinhard trägt als Chevalier das Lied von den Blumenmädchen von Sorrent wunderbar pointiert vor. Wilfried Zelinka, Ivan Orescanin und David McShane holen ein Maximum aus ihren kleineren Rollen und tragen damit nicht unwesentlich zum gelungenen Auftakt der neuen Saison und der neuen Intendanz bei.