Ein gut fünf Meter hoher Berg aus unzähligen Getreidesäcken nimmt die gesamte Bühne ein. Unbedingter Auf- und unweigerlicher Abstieg ist das Thema in Tolstois erstem dramatischen Werk, das 1886 erschien, aufgrund der Zensur jedoch in Russland zunächst nicht gespielt werden durfte. Wo die Mitglieder der Bauernfamilie rund um den tyrannischen, aber todkranken Patriarchen Petr im hierarchischen Gefüge gerade stehen, lässt sich an ihrer realen Fallhöhe auf Florian Löschers Bühnenkonstruktion ablesen.
Der 31-jährige Nunes, der mit "Einige Nachrichten aus dem All" im Jahr 2012 am Haus bereits Wolfram Lotz' eigenwillige Auseinandersetzung mit der Ausweglosigkeit des Daseins inszenierte, setzt Tolstois abgrundtiefe Figuren irgendwo zwischen Addams Family und Kelly Family an. Während Johannes Krisch als dahinsiechender Petr mit langen, fettigen Haaren und ebenso langem Bart im wallenden bunten Schlafrock und Ganzkörper-Unterwäsche als russischer Hippie vom Gipfel herab seine hysterische Frau Anisja (Aenne Schwarz) über den Hof scheucht, wirken die Töchter Anjutka und Akulina mit ihren dunkel umrahmten Augen und blassen Gesichtern wie willenlose Schatten aus dem Reich der Finsternis.
Den skrupellosen Frauenhelden Nikita, der im Laufe der Zeit nicht nur seinen Kopf unter alle Röcke stecken wird, überzeichnet ein wunderbar emotional wandlungsfähiger Fabian Krüger als grobschlächtigen, dickbäuchigen Ungustl. Dem sollen die Frauen alle nachrennen? Das sorgte schon bei seinem ersten Auftritt für Gelächter im Publikum. Und spätestens mit dem Erscheinen von Ignaz Kirchner als buckeliger Vater Akim und Kirsten Dene als tiefschwarz gewandeter Mutter war klar: Nunes' Figuren (ausgestattet von Victoria Behr) tragen ihr Innerstes nach Außen. Die gerissene Alte verführt die gedemütigte Ehefrau zum Giftmord, der den Knecht Nikita zum neuen Herrn am Hof und zum neuen Feind in Anisjas Bett macht.
Das von Petr gesparte Geld gerät nach dessen Tod in Nikitas Hände und aus dem sorglosen Knecht wird ein Konsumjunkie, was sich im Russland des 19. Jahrhunderts hauptsächlich in der Anschaffung von Pelzmänteln und Schnaps manifestiert. Während die zurückgebliebene Stieftochter Akulina, die Mavie Hörbiger als naives, aber durchtriebenes Gör anlegt, den weibstollen Nikita auf seinen Einkaufs- und Lokaltouren begleiten darf, muss die arme Anisja schon eine demütigende Fellatio über sich ergehen lassen, um von den noblen Einkäufen etwas abzubekommen. Wie das mit dem Geld, den Banken und den Zinsen funktioniert, will der alte Akim nicht so recht verstehen. Und Ignaz Kirchners ungläubige Ausführungen über die Geldwirtschaft ("Du bringst einfach das Geld zur Bank und legst dich schlafen! Das ist doch schändlich!") erreichen sehr zeitgenössische Töne.
Der nach Petrs Tod als Knecht Mitric wiederauferstandene Johannes Krisch bringt es dann auf den Punkt: "Die Studierten - die lieben die Bank am allermeisten. Die kratzen möglichst viel zusammen und schröpfen mit diesen Geldern das Volk!". Die Frage nach dem Geld interessiert Regisseur Nunes im Laufe des zweistündigen, pausenlosen Abends deutlich mehr als die Frage nach Gott, die den meisten Strichen zum Opfer gefallen ist. Dennoch ist es am Ende nicht mehr wie bei Tolstoi die Justiz, vor der sich der Kindsmörder Nikita rechtfertigen muss, sondern die vor Gott versammelte Gemeinde bei der Hochzeit der gefallenen Akulina. Wie das Volk entscheidet, bleibt offen. Dass sein Weg der falsche war, weiß Nikita selbst.
(S E R V I C E - "Die Macht der Finsternis" von Leo Tolstoi im Akademietheater. Regie: Antu Romero Nunes. Mit u.a. Johannes Krisch, Aenne Schwarz, Mavie Hörbiger, Fabian Krüger, Ignaz Kirchner und Kirsten Dene. Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Victoria Behr. Weitere Termine: 4., 7., 11. und 23. April, 4., 17. und 29. Mai sowie am 2. Juni, jeweils um 19.30 Uhr. Karten und Infos unter )