"Ich spielte unter dem Tisch im Hof, wenn die Alten sich flüsternd Geschichten erzählten", schreiben Sie in Ihrem "Buch des Flüsterns", in dem es um eines der dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts geht: um den türkischen Genozid an den Armeniern. Zwischen 1915 und 1917 wurde das älteste christliche Volk fast ausgelöscht. Ist die Aufarbeitung der Geschichte Ihrer Ahnen auch eine Aufarbeitung eigener Traumata?
VARUJAN VOSGANIAN: Für uns Armenier ist die Erinnerung nicht ein Teil der Vergangenheit. Sie ist ein Teil der Gegenwart und Zukunft. Wenn man der Vergangenheit nicht begegnet, hat die Zukunft keinen Sinn. In Wahrheit habe ich mit diesem Buch schon in meiner Kindheit begonnen - durch das, was mir erzählt worden ist.
Es heißt, dass die dritte Generation die Traumata der Großeltern wieder erlebt. Ist das so?
VOSGANIAN: In meinem Buch habe ich die Geschichte meines Vaters und meiner Mutter unter den Tisch fallen lassen - kein Zufall. Es ist mehr als interessant, dass der Fingerprint einer Generation weitergegeben wird, vor allem von den Großeltern zu den Enkeln. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass die Großeltern vor 60, 70 Jahren eine Institution waren. Ich habe das Erbe meiner Großeltern angenommen, kann aber nicht unbedingt sagen, dass es ein schweres Erbe ist oder dass ich mit einem Hass in mir aufgewachsen bin.
Kein Hass? Nach dem Völkermord an Ihren Vorfahren?
VOSGANIAN: Nein, ich hasse die Türken nicht. Der Vater meiner Mutter überlebte nur dank der Hilfe türkischer Bürger. Er erkrankte mit 15 Jahren an Typhus und wurde von einer türkischen Familie gesund gepflegt. Meine Vorfahren sprachen alle brillant Türkisch, sie waren ja dort geboren. Meine Großeltern gingen in Konstantinopel in die Schule. Als ich später selbst einmal - das einzige Mal übrigens - von türkischen Autoritäten nach Istanbul eingeladen wurde, verstand sogar ich viel von ihrer Sprache, obwohl ich sie nie gelernt habe, aber ich hatte wohl etwas von meinen Großeltern aufgeschnappt.
Hrant Dink, der 2007 in Istanbul ermordete armenische Journalist, hat gesagt, dass die Stille des Vergessens die Basis dafür ist, dass sich die Geschichte wiederholt.
VOSGANIAN: Es gibt drei Möglichkeiten, sich zu erinnern: das Vergeben, das Vergessen oder die Rache. Vergessen bedeutet, dass man sich selbst vergisst. Man kann das Fenster schließen und hört den Straßenlärm nicht mehr.
Aber er ist noch da.
VOSGANIAN: So ist es. Die Rache ist die gefährlichste aller drei Möglichkeiten. Überall auf der Welt vermehrt die Rache das Leid. Es gibt keine Arithmetik des Bluts. Zwei getötete Menschen von hier gegen zwei getötete Menschen von dort ergibt niemals null, sondern vier. Mein Großvater Garabet entschied sich für den dritten Weg: für das Vergeben, für ihn das Wesentlichste im Leben. Vergeben ist ein Dialog und beinhaltet, dass Dinge nicht mehr geschehen. Denken Sie an Willy Brandt, wie er in Warschau kniete: Das ist mit ein Grund, warum die Juden den Deutschen vergeben haben. Brandt signalisierte: Das werden wir nie wieder tun.
Sänger Charles Aznavour bezeichnet sich selbst als "Advokat der Armenier". Sind Sie das auch?
VOSGANIAN: "Advokat" ist nicht das ideale Wort: Es bedeutet, dass man die besten Möglichkeiten für seinen Klienten findet. Ich finde "Zeuge" besser. Damit die Fakten nicht sterben. Und es wird immer wieder einmal notwendig sein, die Fakten auf den Tisch zu legen und zu sagen: So war es! Wie es Franz Werfel mit "Die vierzig Tage des Musa Dagh" tat, als er den Völkermord an den Armeniern literarisch verarbeitete. In meinem "Buch des Flüsterns" geht es aber vor allem um das traurige 20. Jahrhundert, das schon mit 14 Jahren alt wurde: nach dem Attentat von Sarajevo. Das 21. Jahrhundert hingegen wurde 2001 - mit 9/11 - schon alt geboren. Wie Benjamin Button im Roman von F. Scott Fitzgerald.
Verfilmt mit Brad Pitt.
VOSGANIAN: Genau. Die Frage ist nur, ob dieses 21. Jahrhundert die Kräfte eines Benjamin Button hat, sich von einem alten zu einem jungen Mann zu entwickeln.
Anfang Oktober traten Sie als rumänischer Wirtschaftsminister zurück. Korruptionsvorwurf stand im Raum: Man las über den Verkauf von Erdgas zu einem Vorzugspreis an einen hoch verschuldeten Düngerproduzenten.
VOSGANIAN: Ich habe nichts Unrechtes getan. Der Verkauf war eine politische Entscheidung, gebilligt vom Präsidenten, um Entlassungen zu verhindern sowie Düngerpreise zu stabilisieren. Korruption zu verhindern, ist für jedes Land die Reifeprüfung. In Rumänien geht es aber um etwas, was viel tiefer als Korruption geht: um den Kommunismus. Die politischen Tendenzen gehen eher wieder zurück in diese Ära. Rumänien hat seine Vergangenheit weder verstanden noch akzeptiert. Das Land macht zwei Schritte nach vorn und drei zurück. Im Vormonat habe ich ein neues Buch herausgebracht, das "Buch des Flüsterns" über die Rumänen. Über ihre Unfähigkeit, eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Doch um einen Dämon zu bannen, muss man ihn erst einmal benennen. Die politischen Verhältnisse in Rumänien sind einem Menschen im Westen unendlich schwer zu erklären. Der Westen war auf Rumänien innerhalb der EU auch nicht vorbereitet, denn dort hat niemand den Kommunismus erlebt. Österreich und Deutschland sind Spezialisten des Faschismus, den Kommunismus kennen sie nicht.
Kann man Kommunismus und Faschismus nicht als zwei Seiten einer Medaille verstehen?
VOSGANIAN: Nein. Im Kern sind sie völlig entgegengesetzt. Faschismus ist Gewalt gegen den Körper. Kommunismus ist Gewalt gegen die Seele. Für all die kaputtgegangenen Seelen gibt es keine Zahlen. Um die Gräuel des Kommunismus benennen zu können, braucht es eine tiefere Analyse. Und ich fürchte, die westlichen Länder haben weder genug Geduld noch Zeit, um sich damit zu befassen. Dazu kommt, dass meine Generation nach 1990 enorme Fehler beging. Wir waren so froh, den Kommunismus endlich los zu sein. Hannah Arendt hatte seinerzeit etwas sehr Kluges gesagt. Sinngemäß: Die Pros und die Kontras hören sich im Ohr gleich an. Was sie meinte: Fanatiker unterscheiden sich nicht. Besser, als die Kommunisten zu bekämpfen, wäre gewesen, man hätte gehandelt: in der Gesellschaft, in der Politik, um das andere, das Nicht-Kommunistische durchzusetzen. Wir haben gegen Geister gekämpft und die Lebenden darüber hinaus verloren.
Im "Buch des Flüsterns" schreiben Sie, dass Sie seit Ihrer Jugend Olivenkerne, die Ihr Großvater ausgespuckt hat, im Jackett bei sich tragen. Stimmt das?
VOSGANIAN (holt ein Sackerl aus seiner Hosentasche): Ich bewahre sie derzeit so auf, damit ich keinen Kern verliere (leert ein Dutzend Kerne auf den Tisch) . Als mein Großvater starb, nahm ich die Tesbih an mich - ein türkisches Wort, für das es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Für mich sind es Glücksbringer.
INTERVIEW: MANUELA SWOBODA