Vor vier Jahren berichtete ein Zeitzeuge aus Israel österreichischen Schülern von den Schrecken der Nazi-Zeit. Die hatten seine Familie und er als Jugendlicher in Wien miterlebt. Zu der Zeit hieß er noch Alfred Müller, lebte in Ottakring und wollte Schlosser werden.
Eine wichtige Phase seines Lebens verschwieg er den jungen Zuhörern: wie er nach seiner Flucht nach Palästina als Angehöriger der "Jüdischen Brigade" in der britischen Armee nahe Tarvis stationiert wurde und mit anderen Juden hochrangige Nazis in Kärnten, Osttirol und der Steiermark entführte und erschoss - nach Ende des Zweiten Weltkriegs! Da hieß er schon lang Chaim Miller.
Was damals geschah, weiß kaum jemand so gut wie der Filmemacher und Journalist Andreas Kuba. Er hat Miller in Österreich begleitet, ihn im Kibbuz besucht und im Kreis seiner Familie erlebt. Kuba hat darüber mehrere Artikel, ein Radio-Feature und einen Dokumentarfilm gemacht, der am 15. Mai 2013 um 20.15 Uhr auf 3sat gesendet wird. Auf diese Veröffentlichungen stützen sich die folgenden Aussagen und Zitate Chaim Millers.
Wenn der bald 92-Jährige in seinem Kibbuz Journalisten empfängt, irritiert er sie gern mit einer Hakenkreuz-Binde am Arm und dem Absingen von Horst Wessels "SA marschiert"-Hymne. Die musste er nämlich lernen.
Als Miller, 17-jährig, in Palästina eintraf, fürchteten die Juden, dass sie von Rommels Truppen aus Afrika überrannt werden. Sie bildeten eine "Special Agent"-Einheit, deren Mitglieder hinter den deutschen Linien Anschläge verüben sollten und zur Tarnung als Deutsche durchgehen mussten. Dazu gehörte, die Nazi-Unkultur zu beherrschen - mitsamt Liedern, NS-Symbolen und allem, was einen "100-Prozentigen" ausmachte.
Doch Rommels Armee wurde geschlagen und die "Jüdische Brigade" wollte die Wehrmacht in Europa bekämpfen. Aber als sie in Süditalien landete, war der Krieg vorbei. Aus Angst vor Racheakten durch jüdische Einheiten wurden Miller und seine Truppe im italienischen Camporosso bei Tarvis stationiert, an der Grenze zu Kärnten.
Als sie Gewissheit hatten, dass ihre Familien vernichtet worden waren, und erfuhren, was die Nazis den Juden angetan hatten, besorgten sie sich von jugoslawischen Partisanen die Namen von mutmaßlichen hochrangigen Nazis. Als Angehörige der britischen Armee holten sie die "Verdächtigen" zum Verhör ab, brachten sie aber hinter die Grenze - vermutlich in einen Wald bei Malborghetto. Dort wurde mit den Entführten kurzer Prozess gemacht. Danach wurden sie erschossen, manchmal in dem Grab stehend, das sie vorher schaufeln mussten. "Nur einmal", glaubte sich Miller zu erinnern, "ist ein Verdächtiger nicht erschossen, sondern freigelassen worden."
Zu einem der ersten Rachemorde war es bei Heiligenblut gekommen: Die Soldaten hatten einen Ausflug zum Großglockner gemacht und in einer abgelegenen Hütte zwei versteckte Männer mit tätowierten SS-Zeichen aufgespürt. Einer der jüdischen Soldaten führte sie zu einer Gletscherspalte und stieß sie hinein.
Immer wieder fuhren Männer aus Millers Einheit nach Klagenfurt, Villach, Lienz und in die Steiermark, um Rache zu üben. Zahlen gibt es nicht, Schätzungen liegen zwischen ein paar Dutzend und wenigen Hundert.
Nachdem Miller nie ein Hehl aus seiner Mittäterschaft gemacht hat, wurde er 2009 in einer Sachverhaltsdarstellung angezeigt. Die Staatspolizei beauftragte das Kärntner Landesarchiv mit Nachforschungen. Dessen Direktor Wilhelm Wadl fand heraus, dass es keine verwertbaren Hinweise auf die beschriebenen Tötungsdelikte gab. Miller habe 2009 mit einem italienischen Journalisten versucht, den Tatort zu finden, was nicht gelungen sei. Von den Personen, die in den Nachkriegswochen und -monaten verschwanden, seien die meisten nachweisbar von jugoslawischen Partisanen entführt worden. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Abwehrkämpfer, Rechtsanwalt und Landtagsabgeordneter Fritz Dörflinger. "Er soll vor seinem Verschwinden in Villach in Begleitung von zwei britischen Soldaten gesehen worden sein, obwohl die Briten dort bereits abgezogen waren", so Wadl.
Für eine Anklage ist das zu dünn. In Deutschland endete ein ähnliches Verfahren mit Freispruch wegen "Verjährung aufgrund außergewöhnlicher Umstände". In Österreich lief es auf das Gleiche hinaus: Verjährung bei Tötungsdelikten gibt es nicht. Straftaten im Kampf gegen die Nazis waren es auch nicht. Verhandelt wird trotzdem nicht.
"Was mir leidtut"
Filmemacher Kuba hat Miller auch mit seiner Familie im Kibbuz gefilmt. Für seine Tochter ist Miller ein Held. Seine Enkelin ist kritischer: "Rache macht niemals zufrieden!" Gefragt, ob ihm die Erschießungen leidtäten, sagte Miller: "Leid tut mir, dass wir nicht mehr gemacht haben."
JOCHEN BENDELE