Herr Handke, siebzig, was ist das für eine Schwelle?

PETER HANDKE: Ich habe nicht gewusst, dass Sie so brutal fragen.

Sie verhöhnen uns.

HANDKE: Wenn der Geburtstag nicht wäre, würde ich nicht in Zahlen denken. Aber Sie fragen mich halt, und ich bin dann der Gefangene Ihres Denkens.

So schnell geht das?

HANDKE: Ja, weil alle darüber reden, so wie Sie, denkt man, man muss auch so denken, man muss auch über das Alter nachdenken.

Heißt das, das Alter löst bei Ihnen kein Empfinden aus?

HANDKE: Im Gefühl, im Schauen spürt man kein Alter, man ist weder jung noch alt. Aber wenn dann die Krankheiten kommen oder die Drohungen, dann spürt man die Befristetheit.

Bedrückt Sie das?

HANDKE: Vor einem Jahr bin ich zum Maturatreffen gegangen. Die meisten Mädchen von früher habe ich auf den ersten Blick gar nicht wiedererkannt, während die einen alle wiedererkennen. Da fängt man schon an, nachdenklich zu werden. Dann fühlt man sich wie eh und je als Außenseiter. Die sind in ihrem Alter wie in einem Zelt drinnen, man selbst ist nicht einmal im Alter in der Gemeinschaft.

Sie sind berühmt, die anderen nicht, das schafft Distanz. Haben Sie wenigstens die Frauen wiedererkannt, für die Sie damals geschwärmt haben?

HANDKE: Es gab eine.

War sie dort?

HANDKE: Ja, die war dort. Selbst die hätte ich nicht wiedererkannt. Wir haben uns zum ersten Mal als ältere Menschen umarmt, was ich in unserer gemeinsamen Schulzeit immer gewünscht habe. Es ist mir zum ersten Mal geglückt, dass sie selbst mich umarmt hat.

War es zu spät?

HANDKE: Nichts ist zu spät. Aber es war sehr rührend und sehr bewegend. Sehr? Bewegend allein genügt.

Das Alter feiern, möchten Sie das?

HANDKE: Ich bin einer, der seine Geburtstage immer feiert, weil ich froh bin, dass ich geboren und am Leben bin. Aber wenn es offiziell wird, tue ich nur aus Höflichkeit mit.

Ist es Ihnen peinlich?

HANDKE: Das ist billig zu sagen, aber es interessiert mich nicht. Es reicht mir, dass irgendein Volk sich bildet, ich möchte Anlass sein, dass andere zusammenkommen und unter sich fröhlich sind. Ich selbst bin ein sperriger Typ.

Wo wollen Sie feiern?

HANDKE: Nicht in Venedig und nicht in London. Irgendwo, wo es Kaminfeuer gibt und der Wind heult. Und vielleicht gibt es auch ein paar Schneeflocken.

Wieso der Kitsch? Gibt es keinen Ort, der Ihnen nahegeht?

HANDKE: Der Ort im Jauntal, an dem wir gerade sitzen, der geht mir im Moment nahe. Ein Ort symbolisiert alle Orte. So ist das mit dem Alter. Wir sind fremd auf der Erde. Man muss sich verabschieden. ,Zärtlich muss geschieden sein', hat Ferdinand Raimund geschrieben. Geschieden nicht nur vom Menschen, sondern auch vom Gras und vom Wind. Aber wie soll das gehen?

Wenn Sie an einem schönen Ort sind, dann denken Sie ans Abschiednehmen?

HANDKE: Goethe hat gesagt: Warum geht man nicht weg aus der Welt als Gast des Lebens? Das hat er leicht gesagt, und am Ende war das Sterben auch für ihn nicht so leicht. ,Und solang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.' Das ist ein Geheimnis, das keiner schafft, nicht einmal der Papst.

Hätten Sie gerne anders gelebt?

HANDKE: Ein Maschinengewehr hätte ich gern bedienen gelernt.

Für wen? Gegen wen?

HANDKE: Das sage ich euch nicht. Das fällt mir so ein. Natürlich, wie man so sagt, nur zur Verteidigung. Ich hätte gern den Militärdienst geleistet. Aber den habe ich nachgeholt, indem ich mich selber wie meinen eigenen Soldaten behandelt habe über Jahrzehnte.

Es gibt wenige Autoren, die so produktiv sind wie Sie.

HANDKE: Das Wort produktiv möchte ich nicht gehört haben.

Die so viel schreiben wie Sie. HANDKE: Noch schlimmer.

Andere verstummen im Alter.

HANDKE: Die verstummen überhaupt nicht, die mosern die ganze Zeit herum, dass sie verstummen. Ich bin stumm, weil ich schreibe. Kein Mensch verstummt. Verstummen gibt es nicht. Die Verstummten sind die Unglücklichsten. Es geht hoch her in ihnen, aber es kommt nichts heraus.

Für Sie ist das Erzählen dagegen existenziell geblieben?

HANDKE: Nach sechs, sieben Monaten denke ich mir immer, jetzt habe ich genug vom Pilzesuchen, vom Kinogehen, vom Lesen, vom Gartenarbeiten und vom Baumstutzen. Jetzt muss etwas geschehen, ich muss mich wieder aufs Spiel setzen. Das können auch kleine Sachen sein, wie jetzt der "Versuch über den Stillen Ort". Für mich ist es das Schönste, etwas Stilles zu schreiben, von dem noch nie jemand gedacht hat, es ist der Literatur wert. Was kann der Abort sein als Ort, wo man Kraft findet? Vielleicht mehr als eine Kirche.

Wird es noch einen Versuch geben?

HANDKE: Einen noch. Über den Pilznarren.

Also über Sie.

HANDKE: Beim Pilznarren ist es so, dass er die Gesellschaft verliert. Die Pilze ersetzen ihm jeden König. Das Schöne daran ist, dass das ein Wahn ist, der gar nicht so schlecht ist, immer im Gleichgewicht zwischen Abenteuer und Irrsinn, aber besser als Kokain. Bei mir im Wald in Chaville gibt es Portugiesen, die rücken in der Nacht mit Taschenlampen zum Pilzesuchen aus.

Verscheuchen Sie die?

HANDKE: Nein, da geh ich nicht hin. Wenngleich: Ich bin auch schon um vier Uhr in der Früh wach gelegen und habe mir gedacht, jetzt könnt' man eigentlich.

Was hat Sie abgehalten?

HANDKE: Meine Frau hat meine Pilze nicht mehr sehen und riechen können. Da hab ich mich auf den Bahnhofskai geflüchtet und die Pilze versteckt, damit sie mich nicht anbrüllt, wenn ich damit nach Hause komme.

Ist das eine Leidenschaft, die aus Ihrer Kindheit kommt?

HANDKE: Ich habe von den Pilzen meine ersten Bücher gekauft.

Die Pilze waren Ihr Tor zur Welt?

HANDKE Naja, meine letzte Freude sind sie, die letzte Freude vor der Autobahn des Todes. Last Exit Steinpilz.

Was wollen Sie Ihren zwei Töchtern weitergeben?

HANDKE: Ernsthaftigkeit. Begeisterung. Dass sie erschütterbar sind. Begeisterung ist alles. Dass sie sich nicht schämen für ihre Begeisterung. Dass sie stehen zu dem, was sie lieben. Dass sie es verteidigen und weitergeben. Dass sie Traditionalisten sind, auf eine Weise auch Konservative. Und dass sie nicht zynisch werden. Ironie kann helfen, aber Zynismus nie. Selbstironie behütet auch die eigene Begeisterung. Wenn man zu sich selbst ironisch ist. Und ich will weitergeben, dass man auch zornig werden kann.

Ist Zorn nichts Verwerfliches?

HANDKE: Zorn ist für mich nicht schlecht, manchmal nicht einmal Wut. Ich bin nicht gegen Wut, aber Hass, der Hass ist das Schlimmste. Ich bin sehr bedroht von Ekel. Immer. Seit jeher. Das mag ich nicht an mir.

Wird das besser mit den Jahren?

HANDKE: Nein, mein Gehör wird immer empfindlicher, der Sinn für das Hässliche verstärkt sich, der Unsinn für das Hässliche. Man sieht das Hässliche sofort. Ich weiß, das ist falsch, aber es hilft nichts. Ich kann mir das zehnmal sagen, dass es falsch ist. Manchmal hilft ein Glas Wein.

Was bleibt von einem?

HANDKE: Alles.