Seit "Funny Games" 1997 hat der österreichische Regisseur Michael Haneke faktisch ein Abonnement auf die Welturaufführung seiner jeweiligen Filme beim Festival von Cannes. Gibt es eigentlich eine Auszeichnung, die er von Cannes noch nicht mit heim genommen hat? Für "Code: Unbekannt" erhielt er den Preis der Ökumenischen Jury, für "Die Klavierspielerin" den Großen Preis der Jury, für "Cache" den Regie-Preis, für "Das weiße Band" und "Amour" jeweils die Goldene Palme.
"Amour" mit Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant in den Hauptrollen als pensioniertes Musiklehrer-Ehepaar zielt mitten hinein in das Herz und Hirn des Publikums. Ein großartiger, aber auch ein höchst unangenehmer Film. Es geht darin um die letzten Dinge: um das Alter, um Erkrankung, um den Tod.
Irgendwo in einem Stiegenhaus in Paris: Feuerwehrleute brechen eine Wohnungstür auf, Polizisten treten in die Wohnung ein, entdecken eine mit Klebeband isolierte Tür, gehen hinein, die Kamera richtet ihren Blick auf eine wohlgefällig hergerichtete weibliche Leiche, die schon einige Zeit tot sein muss. Dann erscheint auf der Leinwand der Filmtitel "Amour", Liebe.
In einer Rückblende lernen wir Anne und Georges kennen. Wir begleiten sie bei einen Schubert-Konzert ihres Klavierschülers Alexandre (Pianist Alexandre Tharaud). Sie fahren nach Hause und müssen entdecken, dass jemand einen vergeblichen Einbruchsversuch in ihre Wohnung unternommen hat. Georges scheint nicht weiter irritiert zu sein, Anne verbringt eine schlaflose Nacht. Beim gemeinsamen Frühstück erfasst Georges die Panik: Anne reagiert nicht auf ihn, hat einen Aussetzer, ist nicht präsent. Aus den ersten Anzeichen einer entwickelt sich das Vollbild einer Krankheit. Anne erleidet einen Schlaganfall, eine Operation misslingt, ihr körperlicher Verfall schreitet unaufhaltsam voran.
Diese zwei alten Menschen halten sich, so lange es geht, aneinander fest. Gelegentlich kommt die im Ausland lebende Tochter (Isabelle Huppert) samt Schwiegersohn (William Shimell) vorbei, der Mann der Concierge hilft bei Alltagsbesorgungen. Georges schmeißt eine Pflegerin hochkant hinaus, die seine Frau nicht liebevoll behandelt.
Dieses mehr als zweistündige Kammerspiel lässt der 70-jährige Wiener Regisseur auf seinen Kulminationspunkt zutreiben: Anne liegt wie ein Häufchen Elend im Bett, Georges erzählt ihr eine Geschichte aus seiner Jugend und setzt plötzlich eine Tat, die nichts mehr mit Sterbehilfe zu tun hat.
"Es ist, was es ist, sagt die Liebe", heißt es in dem Gedicht von Erich Fried. Haneke verweigert jeden Trost. HHHHH
Emmanuelle Riva im Porträt des Tages, Seite 9
REINHOLD REITERER