Die Kindheit erinnert einen: Der Keller als Ort der Drohung, des Unheils, der schwarzen Angst. Auch Ulrich Seidl nimmt ihn 2001 in "Hundstage" als prototypischen Strafraum her: Der Alarmanlagenvertreter Hruby will im Auftrag seiner Kunden einen Autozerkratzer dingfest machen, schnappt sich wegen detektivischen Misserfolgs kurzerhand die verrückte Anna (Maria Hofstätter) und sperrt sie in einen Keller. Dort dürfen die Geschädigten an der Sündenböckin Selbstjustiz üben.
Der Wiener Regisseur, in Venedig gerade für "Paradies: Glaube" mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet, beschäftigte sich auch in seinem heuer bei den Wiener Festwochen gezeigten Theaterstück "Böse Buben/Fiese Männer" und mit einer fertiggestellten Dokumentation mit dem Keller "als Symbol der Finsternis, des Versteckens, des Geheimnisses, auch der Männerphantasien".
Die Phantasien von Josef Fritzl sind unfassbar. 24 Jahre lang hielt er seine eigene Tochter in einer unterirdischen Wohnung in seinem Haus in Amstetten gefangen, vergewaltigte sie vielfach und zeugte mit ihr sieben Kinder. Drei davon mussten ebenfalls jahrelang im Kellerloch aufwachsen. Erst im April 2008 war das Martyrium der Opfer zu Ende, Fritzl wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe mit Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt.
Unfassbar? Régis Jauffret gab sich damit nicht zufrieden. Der französische Autor recherchierte wochenlang in Amstetten und beobachtete den Prozess. Was er dort an grauslicher Realität sah und erfuhr, packte er in seinen Roman "Claustria".
Andere Inzestfälle
Klaustrophobie und Austria, das ging seit den verwandten Fällen Kampusch und Fritzl für die Weltöffentlichkeit perfekt zusammen, auch wenn ähnliche Taten wie in Nordbrasilien, wo 2010 ein Inzest mit einer zwölf Jahren eingesperrten Tochter und ebenfalls sieben gezeugten Kindern aufflog, beweisen: Österreich ist leider überall.
Wie darauf reagieren? Auch mit den Mitteln der Kunst. Für Régis Jauffret ist das selbstverständlich: Der 57-Jährige zählt Truman Capote zu seinen Idolen, der 1965 mit "Kalblütig" einen wahrheitsgemäßen Bericht über einen Mehrfachmord und seine Folgen in einem "non-fiktionalen Roman" vorlegte. Die Arbeit an dem Buch erschöpfte den US-Autor bis hin zum Selbstmord. "Manchmal habe ich es bereut, dass ich mich da hineingekniet habe", gesteht auch Jauffret, der zwei Jahre auf die Fertigstellung seines Romans verwendete. Als "Claustria" Anfang des Jahres in Frankreich erschien, blieb das "danteske Drama" trotz Begeisterung im Feuilleton so umstritten wie die meisten seiner Bücher.
Abartige Phantasie
Jauffret hatte sich schon zuvor oft in die Gedankenwelt von Verbrechern gesetzt, von Kindsmörderinnen in ("Clémence Picot") ebenso wie von Vergewaltigern - sein Buch "Histoire d'amour" (1997) brachten ihm zig Drohbriefen ein, Buchhandlungen setzten das Werk auf den Index. Zu abartig sei seine Phantasie.
Bloß artig können die Antworten auf das Abscheuliche freilich auch nicht sein: Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zerrte Fritzls Wahnsinnstaten in "Faustln and out" ebenso ins Bühnenlicht wie Aktionskünstler Hubsi Kramar im "Pension F." Das deutsche Satiremagazin "Titanic" machte Fritzl 2008 gar zum EM-Maskottchen. Und auch Rapper, Rocker oder Metal-Musiker dichteten ihre Texte auf die Hölle von Amstetten, so die deutsche Rockband Rammstein:
Komm mit mir / Komm auf mein Schloss / Da wartet Spaß im Tiefgeschoss / Leise, leise woll'n wir sein / Den Augenblick von Zeit befreien / Das Paradies liegt unterm Haus / Die Tür fällt zu / Das Licht geht aus . . .
MICHAEL TSCHIDA