Paul Gauguin war der Inbegriff des „romantischen Künstlers“. Die klischeehafte Vorstellung von einem Genie, das die Fesseln der Konvention abstreift, seine gesicherte bürgerliche Existenz hinter sich lässt, um sich etwas Höherem zu weihen. Der im Revolutionsjahr 1848 in Paris geborene Gauguin war schon als Jugendlicher „auf der Flucht“. Als Matrose bereist er die Welt, noch bevor er sich als Börsenmakler zu Wohlstand und einer ganz bürgerlichen Familie kommt.

Doch schon in jener Zeit nimmt die Malerei von ihm Besitz. Der Autodidakt kommt mit den Landschaftsmalern und Impressionisten seiner Zeit in Kontakt, deren Stil er bald nacheifert. Mit Mitte 30 flüchtet er aus seiner Existenz, entscheidet sich ganz der Malerei zu widmen und wird zu jenem unsteten Bohèmien, der in die Kunstgeschichte eingeht. Ein zwischen der französischen Provinz und Paris, der Karibik und letztlich der Südsee wandelnder Künstler, recht erfolglos, von Armut bedroht, und sich nicht zuletzt ob seiner Zeit außerhalb Europas selbst als „Wilden“ stilisierend.

Der Gang durch die Kunstgeschichte

Die Ausstellung im Kunstforum macht den enormen Wandel im Werk des Künstlers sichtbar. An Gauguin lässt sich auch der Gang der Kunst jener Jahrzehnte festmachen, den der Künstler aufnahm und mitprägte. Von der Landschaftsmalerei und dem Spätimpressionismus kommend, entwickelt er wohl unter dem Einfluss japanischer Vorbilder eine flächige Bildsprache, die eher inneren Vorgängen und Emotionen als der sichtbaren Wirklichkeit gerecht wird. Als Proponent des Synthetismus und Symbolismus gibt er mit seinen Bildern aus der Südsee aufregende neue Impulse: nachdem er die farbigen Landschaften erkundet, erkundet er die Menschen Polynesiens in zunehmend abstrakteren Formen.

Auti Te Pape. Spiel im Süßwasser. Holzschnitt (1893-94), aus der Serie Noa Noa
Auti Te Pape. Spiel im Süßwasser. Holzschnitt (1893-94), aus der Serie Noa Noa © Galleri K, Oslo

Die von Evelyn Benesch in jahrelanger Arbeit kuratierte Ausstellung dokumentiert diese Stufen. Von den noch epigonale Züge tragenden Werken wie „Landschaft mit Pappeln“ (1875) und „Interieur mit Aline“ (1881) über die „Bretonin“ (1888) und „Ernte“ (1890) bis zu „Te aa no Areois -Der Samen der Areoi“ (1892) und  „Die Flucht“ spannt sich der Gemäldebogen, der aber um zahlreiche grafische Arbeiten ergänzt ist. Der Ausstellungstitel bezieht sich auf die Vielzahl der gezeigten Holzschnitte und Zinkografien, in denen Gauguin seine Formensprache gefunden hat. Etwa die auf knallgelbem Papier gedruckten, überwältigenden Schönheiten wie „Bretoninnen am Zaun“ oder „Die Grillen und die Ameisen“ aus der „Suite Volpini“ (1889).

Tahitianerinnen beim Baden, Öl auf Papier, 1892
Tahitianerinnen beim Baden, Öl auf Papier, 1892 © bpk | The Metropolitan Museum of

Dass sich schon vor geraumer Zeit die Schatten der Aufklärung über die Inselparadiese Gauguins gelegt haben, wird in der Ausstellung selbst kaum thematisiert und doch ein Stück weit zu wenig kontextualisiert. Dass Gauguin, bei aller Sympathie, die er für die Einwohner Polynesiens bekundete, ein Kolonialherr war, dass sein Bild des Fremden natürlich eine verkürzte, eurozentristische Perspektive beinhaltet, dass er sich bei den Erkundungen auch Fremdes aneignete, ist längst ein Thema im postkolonialen Diskurs geworden. Obwohl er sich gern abseits der Norm stilisierte, entsprach sein Verhalten in diesem Sinne auch genau der sozialen und kulturellen Norm seiner Epoche. Dass ihm als Franzosen in Polynesien minderjährige Geliebte zugeführt worden sind, gehört ebenso dazu, wie der Versuch Gauguins, die exotischen Motive in Europa zu Geld zu machen.

Bilder der Unterwerfung

Die Bilder vom Unterworfenen (seien es Frauen generell oder die Kolonisierten) sind ein Bestandteil jener Blickregime, welche die europäische Kunst über Jahrhunderte zur Norm erhoben hat. Gauguins Gemälde sind so hinreißend und verführerisch, dass Beobachterinnen und Beobachter Gefahr laufen, den paternalistisch-wohlwollenden Blick des Künstlers zu übernehmen. Aber doch sind sie auch unter diesem Aspekt faszinierend. Sie dokumentieren und zeigen die Menschen vom anderen Ende der Welt ohne Schönfärberei und scheinen ihnen ihre Unabhängigkeit zugestehen zu wollen. Die geheimnisvolle Düsternis der grafischen Arbeiten und die traurigen Blicke der Frauen wenden sich vielleicht selbst gegen den Künstler, der sie festgehalten hat. So erzählen diese exotischen Bilder, diese Aneignungen gar nicht von der Fremdheit der „Wilden“, sondern der Fremdheit des Europäers. Diese Menschen wehren sich gegen die Vereinnahmung, weil sie zurückschauen.

Gauguin unexpected. Kunstforum Wien, Freyung. Täglich bis 19. Jänner 2023

Heugarben in der Bretagne, Öl auf Leinwand (1890).
Heugarben in der Bretagne, Öl auf Leinwand (1890). © National Gallery of Art, Washington