„Als Regisseur hat man das Privileg, als Erster mitzuerleben, wie vor der Kamera ein Wunder entsteht“, sagte der Kultregisseur Pedro Almodóvar mit dem Goldenen Löwen in Händen über seinen Film „The Room Next Door“. Der 74-jährige zweifache Oscarpreisträger nahm den Hauptpreis des renommierten Festivals am Lido am Samstagabend entgegen und fügte hinzu: „Das ist mein erster Film auf Englisch, aber er hat eine spanische Seele.“ Dieser Film erzählt von zwei Freundinnen, tiefer Verbundenheit und der Tatsache, dass sie sich mit dem Sterben auseinandersetzen müssen. Denn die eine (Tilda Swinton) hat Krebs – im Endstadium. In seinem Film thematisiere er kein politisches, sondern ein „humanistisches“ Anliegen. Denn: „Wir müssen das Recht haben, zu leben. Aber auch das Recht, zu sterben, wenn das Leben unerträglich geworden ist. Der Film, den die Kritik nicht nur euphorisch aufnahm, hat also die neunköpfige Jury unter dem Vorsitz des französischen Schauspielstars Isabelle Huppert überzeugt. Die wiederum streute dem Kino ganz optimistisch Rosen: „Ich habe gute Nachrichten für Sie: Das Kino ist in großartiger Form.“
Viele der Jury-Entscheidungen waren erwartbar: Für den Liebling der Kritik, das fiktive Biopic „The Brutalist“, erhielt der Amerikaner den Regie-Preis. Er fesselte das Publikum in Venedig auf 70 mm und einer Länge von 215 Minuten. Als beste Drehbuchautoren wurden Murilo Hauser und Heitor Lorega für das brasilianische Drama „I’m Still Here“ von Walter Salles ausgezeichnet, den Spezialpreis der Jury bekam das schonungslose, georgische Abtreibungsdrama „April“ von Dea Kulumbegashvili. Die italienische Regisseurin Maura Delpero erhielt für ihren Film „Vermiglio“ den Großen Preis der Jury.
Furchtlose Frauen vor den Vorhang
In seiner Favoritenrolle gerecht wurden auch Frankreichs Filmstar Vincent Lindon, der in „The Quiet Son“ des Regie-Duos Delphine und Muriel Coulin eindringlich und mitfühlend einen Witwer und Alleinerzieher verkörpert, dessen älterer Sohn ins rechtsextreme Milieu abzudriften droht. Er kämpft darin wie ein Löwe um seine Familie; eine aufgelegte Rolle für den Workingclass-Hero, der erstmals am Lido mit einem Preis geehrt worden ist.
Die australische Schauspielerin Nicole Kidman gewann den Preis für die beste Schauspielerin für ihre mutige und furchtlose Verkörperung einer Geschäftsfrau, die sich im Erotikdrama „Babygirl“ den jungen Praktikanten zum Lover nimmt. Die niederländische Filmemacherin Halina Reijn hat den Film inszeniert, in dem es um weibliche Lust und die Themen älterer Frauen geht – eines der wiederkehrenden Dringlichkeiten in diesem durchwachsenen Festival-Jahrgang. Nicole Kidman, die 2003 für „The Hours“ einen Oscar erhielt, darf sich nun auch Chancen für eine Oscarnominierung ausrechnen. Der Preisverleihung musste die 57-Jährige fernbleiben, die Regisseurin verlas ihre Botschaft: „Ich habe heute erfahren, dass meine Mutter Janelle Ann Kidman gestorben ist. Ich stehe unter Schock, ich muss zu meiner Familie und widme ihr diesen Preis“, sagte sie.
Preise für Österreich
Über den Publikumspreis in der Reihe „Orrizzonti Extra“ darf sich die österreichisch-iranische Koproduktion „The Witness“ von Regisseur Nader Saeivar freuen, das Drehbuch schrieb er gemeinsam mit Jafar Panahi. Er konnte den Iran verlassen und sich den Preis in Venedig abholen. Erzählt wird die Geschichte von Tarlan, die Zeugin eines Mordes durch eine wichtige Regierungsperson wird. Als die Polizei sich weigert, den Fall zu untersuchen, beschließt sie an die Öffentlichkeit zu gehen. Mit dieser Aktion bringt sie ihre eigene Familie und sich selbst in große Gefahr.
Mehr zu „Pfau“
Und auch ein weiterer heimischer Film reüssierte in Venedig: Bernhard Wengers „Pfau“. Die Gesellschaftssatire über einen Mann mit gewissen Vorzügen erhielt den regionalen Kritikerpreis Premio Bisato d‘Oro.
Nebst Starglamour und der Abstinz der kriselnden italienischen Kulturpolitik blieben die brennenden Themen der Gegenwart bis auf wenige Ausnahmen bei der Preisverleihung sowie im Wettbewerb sowie öffentlichkeitswirksame Solidaritätsbekunden oder politische Ansagen außen vor. In den anderen Sektionen befassten sich viele Filme mit dem Krieg, dem Erstarken der Rechten und den Konsequenzen von Krieg.