Es ist so ungerecht, er ist doch ein Linker, denkt sich der pensionierte Universitätprofessor Jean Roscoff, als ein Shitstorm der sich ebenfalls links nennenden woken Community via sozialen Medien über ihn hereinbricht. Wie es dazu gekommen ist, schildert der herrlich zynische und hellsichtige Roman „Der Seher von Étampes“ des Franzosen Abel Quentin.
„Ich war kein Mann der Ordnung. Ich war ein Linker, der seine Türen stets für neue Winde geöffnet hielt“, meint der traurige Antiheld, der im Ruhestand mit einem Buch über einen vergessenen schwarzen Lyriker und Jazztrompeter noch einmal durchstarten wollte. Dass der ein Farbiger war, erwähnte der erfolglose Historiker aber nur am Rande. Hautfarbe und Herkunft waren ihm nicht wichtig, was dem „alten weißen Mann“ zum Verhängnis wird. Ausgehend vom Vorwurf der kulturellen Aneignung entwickelt sich eine mediale Hysterie, die dem alten Linken bald auch unwillkommenen Applaus von rechter Seite einbringt.
Die aktuelle Identitätsdebatte, Cancel Culture und Wokeness bricht der 39-jährige französische Autor – im Zivilberuf Rechtsanwalt – raffiniert auf den Generationskonflikt zwischen dem harmlosen Uniprofessor und seiner friedliebenden, lesbischen Tochter samt politisch korrekter Freundin herunter. Es ist ein durchaus liebevolles, wenn auch verständnisloses Verhältnis: „Es galt, meine voreilige Skepsis gegenüber diesem Illuminati-Jargon zu überwinden“, nimmt sich der Vater vor und versucht, „das Gespräch auf mein Lieblingsterrain umzuleiten: mich“.
Neben dem Vater-Tochter-Gespann bevölkern noch eine affektierte Lektorin, ein großspuriger Medienanwalt, ein verhuschter Kleinverleger und anderes Personal diesen unterhaltsamen und feinsinnigen Gesellschaftsroman voll spitzzüngiger Dialoge und kluger Beobachtungen. Wer sich an das Leben des US-Schriftstellers James Baldwin erinnert fühlt, der im Buch erwähnt wird und ebenfalls in Frankreich lebte, dürfte dabei nicht ganz falsch liegen.
Karin Waldner-Petutschnig