Rein küchenpsychologisch ist eigentlich alles klar: Was hätte mit dieser Biografie aus dem Buben auch sonst werden sollen? Seine Mutter Semele wurde unabsichtlich vom Vater verbrannt, der sich ihr – als Göttervater Zeus – in seiner Blitzgestalt offenbarte. Der trug das Kind danach in seinem Oberschenkel fertig aus. Das ist zumindest die bekannteste Biografie von Dionysos, Gott des Weines, des Rausches, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase. Das ist freilich weniger eine Jobdescription, sondern mehr Berufung. Für gewöhnlich steht er im Mittelpunkt, die Kunstgeschichte hat ihn je nach Epoche als dunklen Verführer oder lebenslustigen Partylöwen inszeniert. Das ist stimmig, immerhin ist sein bevorzugtes Trikot das Raubtierfell.

Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris hat man ihn ins Abseits gestellt. Mon Dieu! Geht eigentlich gar nicht: Was die einen als Verunglimpfung des letzten Abendmahls interpretierten, war eigentlich ein Gelage aus der griechischen Mythologie. Also nicht weniger als die Spezialdisziplin von Dionysos! Auch seine Fanbase ist hinlänglich bekannt: kein Festumzug ohne Mänaden, seine Begleiterinnen. Neben Musik und Tanz kommt natürlich noch eine weitere Ressource ins Spiel, die schon Udo Jürgens besungen hat: griechischer Wein. Spätestens jetzt ist es offensichtlich – diese Mischung ist immer explosiv. Kein Wunder, dass hier die Wogen hochgehen, während bei seinen Fans der Blutzuckerspiegel steigt, ist es bei seiner Gegnerschaft die Empörungswelle. Dass Dionysos, der in seiner römischen Version auch Bacchus genannt wird, so beliebt ist, ist keinem überirdischen Zauber zu verdanken, sondern ist vor allem menschlich: Das Feiern, über die Stränge schlagen, aus dem Alltag ausbrechen, das Chaos beschwören. Wobei der Mensch auch die Zeche dafür bezahlt: Vom nächtlichen Raubtier bleibt am Morgen meist nur ein jämmerlicher Kater übrig.