Ivo
Ivo ist bis zum Ende da: Sie ist mobile Palliativpflegerin und betreut Menschen bis zu ihrem Tod in deren Wohnungen und Häusern. Ihre Tage sind getaktet, protokolliert. Ivo entert gutbürgerliche Gärten und winzige Wohnungen, ihr Skoda mutiert zu ihrem Freiheitsraum, wo sie isst, arbeitet, singt, pausiert und flucht. Ivo, gespielt von Minna Wündrich, betreut auch Solveigh (Pia Hierzegger) – eine alte Freundin. Mit Solveighs Mann Franz pflegt Ivo eine Affäre. Eines Tages bittet Solveig Ivo um einen Gefallen, sie will eine letzte Entscheidung selbstbestimmt treffen. Die deutsche Filmemacherin Eva Trobisch nähert sich kühl und distanziert den vielfach tabuisierten Themen Tod, Sterben und Suizid und dokumentiert das Leben im Finale; das für Ivo und ihre Kolleginnen und Kollegen Alltag ist. Das erzeugt große Anteilnahme und berührt. (js) ●●●●○

Welcome Venice

Betörende Bilder aus der Lagune und ein touristenleeres Venedig, wie man es nicht kennt: Andrea Serge hat nach der Doku „Moleküle der Erinnerung“ auch den Spielfilm „Welcome to Venice“ während der Pandemie gedreht. Erzählt wird die Geschichte der drei Brüder Toni Pietro und Alvise, die einer alteingesessen Fischerfamilie auf der Insel Giudecca angehören. Als Toni durch einen Blitzschlag getötet wird, stehen sie vor der Frage, was mit dem Elternhaus in Wasserlage passiert. Der Fang der Moeche-Krebse reicht kaum noch, um zu überleben, Immobilien zu vermieten, ist viel lukrativer. Pietro will sein Erbe und das Leben, wie er es kennt, nicht aufgeben, Alvise lässt sich von dubiosen Immobilienmaklern locken. Der italienische Filmemacher arbeitet sich ruhig und vielschichtig an Themen wie Overtourism, Ausverkauf und Wegzug der Jungen ab. (js) ●●●○○

Disco Boy

Euro-Star Franz Rogowski beweist mit „Disco Boy“ wieder einmal seinen Mut zu unkonventionellen Rollen. Darin spielt er den weißrussischen Flüchtling Aleksei, der sich bei der berüchtigten französischen Fremdenlegion verpflichtet. Bei einem Einsatz im Nigerdelta trifft er auf den Rebellen Jomo und ihre Identitäten verschmelzen miteinander. Zurück in Frankreich zieht es ihn in die Nachtclubs, wo er auf eine geheimnisvolle afrikanische Tänzerin trifft. Der gesamteuropäische Debütfilm von Giacomo Abbruzzese verhandelt ohne viel Dialoge das Thema postkoloniale Identität. Der sinnlicher Stil changiert dabei zwischen dokumentarischen Szenen und hypnotisch-künstlerischen Traumbildern, begleitet von einem markanten Elektro-Soundtrack. Für die starke visuelle Gestaltung von Nachtsichtaufnahmen bis zu Stroboskop-Effekten bekam Kamerafrau Hélène Louvart den Silbernen Berlinale-Bären. Ein ambitioniertes Erfahrungskino, das viel sucht und auch einiges findet. (maw) ●●●○○

„... ned, tassot, yossot ...“

Im Jahr 2009 präsentierte die Regisseurin Brigitte Weich ihren Dokumentarfilm „Hana, dul, sed ...“. Dieser war nicht nur ungewöhnlich, weil er den damals noch nicht breitenwirksamen Frauenfußball ins Zentrum stellte. Sondern auch, da im Zentrum vier Spielerinnen der nordkoreanischen Nationalmannschaft standen. Einem der abgeschottensten Länder der Welt. In diesem Nachfolgefilm beobachtet Weich, was aus den Spielerinnen geworden ist. Mit dem Ende ihrer Spielkarriere sind sie in die Aufgabenbereiche Schiedsrichterin, Trainerinnen und Angestellte im Fußballverband gewechselt. Dort entstehen komplexe Gefüge von Kinderwünschen, die aufgegeben werden müssen, um Erfolg zu haben, sowie Einschränkungen durch die Diktatur, die einen daran hindern mit dem Ausland mitzuhalten. Zurückhaltend, ohne Wertung ihrer Umgebung beobachtet Weich die Frauen, und sorgt mit deren kleinen und großen Erfolgen für Begeisterung. (sg) ●●●●○