Im ersten von drei „Wiener Prozessen“, inszeniert von Milo Rau, haben „Geschworene“ der „Freien Republik Wien“ am Sonntagabend die Republik Österreich für ihre Coronapolitik sowohl frei als auch schuldig gesprochen. Zuvor waren im Odeon Theater seit Freitag die Covid-19-Maßnahmen der Bundesregierung erörtert worden. Mit Ausnahme von Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hatten eingeladene Politiker es jedoch vorgezogen, nicht an der Inszenierung teilzunehmen.

Sieben „Geschworene“ der von den Wiener Festwochen ausgerufenen „Freien Republik Wien“ sprachen in einem als Gerichtsverhandlung inszenierten Theaterstück die österreichische Bundesregierung einerseits vom Vorwurf frei, im Zusammenhang mit Coronamaßnahmen aus der damaligen Sicht rechtswidrig und zu stark in Grundrechte eingegriffen zu haben. Gleichzeitig fällten sie einen „Wahrspruch“, wonach die Regierung zu wenig zum Schutz von vulnerablen Gruppen unternommen habe und hier mehr tun müsse. „Es war wirklich ein Ringen um eine Entscheidung, und ich glaube, dass das auch das Bild in der Gesellschaft ganz gut widerspiegelt“, kommentierte die als „Richterin“ agierende Irmgard Griss, ehemals Präsidentin des Obersten Gerichtshofs sowie Ex-Nationalratsabgeordnete der Neos.

„Wir haben vor allem im ersten Fall lang und ausgiebig diskutiert. Es wurde auch sehr emotional“, schilderte eine Sprecherin der „Geschworenen“ auf der einem Gericht nachempfundenen Bühne des Odeon. Die Republik habe zwar mit ihren Maßnahmen auch einen Schaden angerichtet, gleichzeitig damit viele Teile der Bevölkerung geschützt. Man habe damals aber nur sehen können, was sich knapp in der Zukunft befunden habe. „Wir wollen diesen Freispruch nicht als Freibrief für zukünftige Regierungen verstanden wissen“, betonte sie gleichzeitig. Im zweiten Fall habe man sich indes einstimmig dafür positioniert, dass Österreich der Verpflichtung nachkommen müsse, vulnerable Gruppen zu schützen und dies auch mit hohem Aufwand zu betreiben sei.

„Freibrief für ausführende Gewalt“

Ganz und gar keine Freude mit dem „Freispruch“ bei Grundrechtseinschränkungen hatte „Kläger“ Alfred Noll, der einen Appell an das „Jüngste Gericht“ ankündigte. Wenn sich Minister nicht an Gesetze hielten und trotz Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof der Meinung seien, dass das in Ordnung sei, befinde man sich in ganz erheblichem Abstand zu dem, was wir demokratischen Rechtsstaat nennen, übte er im Zusammenhang mit einer konkreten rechtswidrigen Verordnung emotional Kritik am damaligen Gesundheitsminister Anschober. Wenn man nicht mehr der Gesetzlichkeit der Verwaltung vertrauen könne, sei das Konzept der Demokratie hinfällig. Den „Geschworenen“ warf Noll in diesem Zusammenhang vor, der ausführenden Gewalt einen Freibrief ausgestellt zu haben.

Intransparenz und rechtswidrige Auszahlungen

Am Wochenende waren zuvor eigentlich drei „Anklagepunkte“ erörtert worden. Zur am Sonntagnachmittag verhandelnden Frage von Intransparenz und rechtswidrigen Auszahlungen der Covid-19-Finanzierungsagentur des Bundes (Cofag) hatten die „Klagsvertreter“ und die „Verteidiger“ der Republik Österreich kurzfristig einen „Vergleich“ abgeschlossen: Das Bundesministerium für Finanzen verpflichte sich somit, vollständige Informationen über Covidförderungen zugänglich zu machen, Subventionen von überförderten Unternehmen zurückzufordern und regelwidrig nicht unterstützten Firmen doch noch eine Förderung zukommen zu lassen. Wie auch beim Urteil selbst verfügen Kunst und Wiener Festwochen freilich über keine formalen Möglichkeiten und Zwangsmittel, diese Forderungen auch tatsächlich umsetzen zu lassen.

Im trotz Überlänge kurzweiligen Dokutheaterstück waren zuvor „Zeugen“ vernommen worden, die massive Kritik an Cofag geübt und in diesem Zusammenhang auch von Korruption gesprochen hatten. „Das Schlimme war, und das ist meine Beurteilung, dass dann vor allem die türkise Politik ab 2017 begonnen hat, diese systemisch gewordene Korruption möglicherweise zu einem politischen Instrument zu machen“, sagte etwa der ehemalige ÖVP-Nationalratsabgeordnete Michael Ikrath mit Verweis auf „andauernde Ermittlungen“.

Der Schuhproduzent und Ex-Bundespräsidentschaftskandidat Heinrich Staudinger nutze indes seinen Auftritt nicht zur Eigenwerbung, sondern zweifelte einmal mehr auch an der Sinnhaftigkeit von Covidimpfungen. „Herr Staudinger, Sie sind ein sympathischer Schwurbler“, begrüßte ihn danach der „Verteidiger“ der Republik, Michael Dohr, den Staudinger seinerseits wohl wegen dessen sehr auffälligen Anzugs als „sympathischen bunten Hund“ bezeichnete.

„Es ist ganz wichtig, dass diese Debatte mit dem Aufeinandertreffen von Positionen einmal stattgefunden hat“, sagte Festwochen-Intendant Milo Rau der APA im Anschluss. Er sei zwar kein Österreicher, habe aber jetzt viele Fakten und Positionen gehört, die es in einer Halbdistanz erlaubten, gewisse falsch gelaufene Dinge vielleicht gar nicht zu verurteilen, sondern beurteilen zu können, erläuterte er. Nach diesem „Versöhnungsprozess“ vom Wochenende versprach der Regisseur für die zwei weiteren Teile der „Wiener Prozesse“ Spannung: Der zweite, sehr antagonistische Prozess über die FPÖ finde am Tag der Europaparlamentswahlen statt, und da werde die Realität sehr präsent sein, kündigte er an. Und auch Teil 3 zu „Kulturkriegen“ sei ein „extrem toxisches Feld“.