Die Haare wahlweise blau oder pink, ein Ring in der Nase und eine Sicherheitsnadel in der Wange: Neun Jahre ihrer Kindheit und Jugend hat die gebürtige Amerikanerin in London verbracht und sich vorbildlich angepasst – als Punk kam sie in die USA zurück und verstörte ihre Mitschüler, wie sie einmal in einem Interview erzählte. Man kann Gillian Anderson als Grenzgängerin bezeichnen, sie liebt schräge Charaktere ebenso wie scheinbar vorgezeichnete Rollen, denen sie eine Extraportion Gillian-Anderson-Drive einhaucht. Dass sie auch außerhalb des Sets eine höchst komödiantische Ader besitzt, wissen nicht nur jene, die ihr auf Instagram folgen. Abgehoben? Mitnichten, das sollen gut und gerne andere machen. Aber was will man schon von einer Frau erwarten, die jahrelang, mit der Taschenlampe im Anschlag, die Untiefen der Mystery-Welt ausgeleuchtet hat: Von 1993 bis 2002 lehrte sie mit David Duchovny als Agentin Dana Scully Außerirdischen das Fürchten. Die Serie „Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI“ war und ist nach wie vor Kult.
Ob Kino oder Theater, Anderson war nach den „The X-Files“ zwar stetig beschäftigt, aber flog mehr oder weniger unter dem Superstarradar. Dass sie ab 2019 dort wieder aufgetaucht ist, hat zumindest in Ansätzen mit außerirdischem Wissen zu tun: Als Sextherapeutin Jean (Gillian Anderson) praktiziert sie wortreich maximale Offenheit, von der ihr pubertierender, verklemmter Sohn Otis (Asa Butterfield) profitiert – als Nachhilfelehrer in Sachen Sexualkunde bei seinen Mitschülern. In vier Staffeln wurde Anderson mit der Netflix-Serie „Sex Education“ vor allem auch beim jungen Publikum zur Kultfigur.
Apropos Sex, im September erscheint ihr Buch „Want“, das eine Art Sammelband Hunderter Briefe ist, in denen Frauen über ihre sexuellen Fantasien schreiben. Auch sie selbst hat einen Brief beigesteuert. Die Intention des Buches, so Anderson: Frauen sollen sich in Sachen Sex fragen „Was will ich wirklich?“ Das Thema subversiv und mit Humor nach außen zu tragen, ist ihr bei der Golden-Globe-Verleihung im Jänner gelungen: Auf der elfenbeinfarben Robe von Designerin Gabriela Hearst waren in allerfeinster Handarbeit Dutzende Vulven aufgestickt.
Doch Anderson kann auch das genaue Gegenteil von Offenherzigkeit verkörpern: In der Netflix-Serie „The Crown“ schlüpfte sie in der vierten Staffel in die Rolle der Premierministerin Margaret Thatcher. Zum Niederknien nicht nur die hölzernen Kommunikationsversuche mit der Queen, sondern auch ein Jagdwochenende auf Schloss Balmoral. Ein Mehr an Abneigung für die royale Lebenswelten ist kaum möglich.
Die Empörung über royale Eskapaden dominiert auch ihren aktuellen Film „Scoop“ (Netflix): Es ist die wahre Geschichte hinter dem denkwürdigen BBC-Interview mit Prinz Andrew zum Missbrauchsskandal rund um den US-Unternehmer Jeffrey Epstein. Der Royal wollte sich publicitymäßig reinwaschen, aber der Schuss ging nach hinten los. Zwei Journalistinnen waren maßgeblich daran beteiligt: Sam McAlister (Billie Piper) und Emily Maitlis (Gillian Anderson), die das Interview geführt hat. Das Wissen um die Wichtigkeit des Interviews, das Ringen um die Herangehensweise und die Entschlossenheit, den Prinzen zu Fall zu bringen, prägt das Spiel von Anderson. Das unterscheidet sie gar nicht so sehr von ihrer Paraderolle als FBI-Agentin – unnachgiebig nach der Wahrheit zu suchen.