Lana Del Reys Großonkel Dick war in der Nacht vor seinem Tod schon so verwirrt, dass er versehentlich das Handgelenk der Sängerin packte und in ihre Hand hustete. „Ich habe einfach geweint“, erinnert sie sich in ihrem weichen, hauchigen Amerikanisch. Del Rey war zur Nachtwache in dessen Haus, zusammen mit 30 Mitgliedern ihrer Großfamilie. „Ich hätte nicht diejenige sein sollen, die weint“, sagt sie. „Die Leute um mich herum waren seine Kinder. Ich war nur ein Star, der vorbeikam.“
Plötzlich hätten damals alle angefangen, das alte Volkslied „Froggy Went a-Courtin‘“ - einst von Bob Dylan gecovert - in einem 13-stimmigen Chor zu singen. „Da wurde mir klar, dass alle genauso gut singen können wie ich und ich nur zufällig diejenige bin, die es geschafft hat. In dem Moment durfte ich mich als Teil eines großen Ganzen fühlen. Man ist halt doch nur ein Sandkorn am Strand.“
Rückzug nach Tournee
In das hübsche Vorstadthaus am Rande von Nashville/Tennessee und nicht in ihr Zuhause in Los Angeles zog sich Del Rey zurück, um nach ihrer Tournee wieder runterzukommen. Die Sängerin begrüßt uns mit einer Erklärung für den überwältigenden Duft im Haus: „Ich habe Salbei geräuchert!“ Dieser ruhige Zufluchtsort, der mit Gitarren, alten Schachspielen und Zeitschriften etwa über Jackie Kennedy gefüllt ist, riecht stark nach dem Kraut, das gute Energie und Entspannung bringen soll. Ihr Wohnzimmer ist sicherlich voll von Letzterem.
Im Kerzenlicht macht Del Rey es sich auf dem Sofa bequem. Die 38-Jährige trägt eine weiße Strickjacke, eine Kruzifix-Halskette, enge Jeans und Cowboystiefel und raucht eine Zigarette. Sie erzählt unter anderem über ihre Vorfahren im amerikanischen Bürgerkrieg („Es ging nicht gut für sie aus“) und einen nahen Verwandten, der starb, kurz bevor Del Rey privat für den Fürsten von Monaco sang. „Ich lade seinen Geist jeden Abend ein, sich neben mich zu setzen“, sagt sie.
Das Gespräch mit Del Rey ist aufschlussreich, unorthodox, häufig auch lustig. Auf die Frage, was sie neben dem Singen am besten kann, sagt sie lachend: „Reden - über das Leben, den Tod und den Ruhm, aber ich schweife immer ab!“ Wovor sie Angst? „Spinnen, oh Gott!“ Was kann sie nicht so gut? Kaffee über ihre App ordern. Eine Bestellung wird storniert, eine andere bleibt auf der Veranda liegen, nachdem sie die Benachrichtigung verpasst hat. „Bin ich ein Idiot?“ Sie öffnet die Tür, davor stehen zwei kalte Kaffees.
Del Rey ist auf Spotify populärer als Harry Styles und Beyoncé. Die meisten ihrer Songs sind Balladen, die aus einer anderen Zeit stammen, man denkt sofort an Hollywood in den 50ern oder „Mad Men“ in den 60ern. Ihre Musik eignet sich besser für eine traurige Reise nach Hause als für eine ausgelassene Nacht. Die Stücke auf ihrem jüngsten, neunten Album, „Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd“, sind ungewöhnlich lang, komplex, und persönlich – auch Großonkel Dick taucht in einem auf. Fünf Grammys könnte sie im Februar damit gewinnen, nominiert ist es unter anderem als „Album of the Year“ und „Best Alternative Music Album“.
Als nächstes plant sie, ein Album mit Standards zu schreiben - klassische, einfache Songs, mit denen sie noch mehr Menschen erreichen könnte als jetzt. So wie die wunderschöne, vom Klavier begleitete Coverversion von „Take Me Home, Country Roads“ von John Denver, die sie heuer veröffentlichte, oder die Elvis-Presley-Version von „Unchained Melody“, die sie in Graceland für eine Weihnachts-TV-Show aufnahm.
Kritik für politische Haltung
Lana Del Rey ist ein Star, der sich nicht nur endlich verstanden fühlt, sondern auch endlich selbst versteht. Das war nicht immer so. Von Fans und Medienleuten wurde sie häufig aus unterschiedlichsten Gründen kritisiert, wegen ihres Aussehens genauso wie für ihre politische Haltung. Nun, man muss wirklich auf sich selbst aufpassen“, sagt sie etwas traurig, „denn wenn man sich auf die Öffentlichkeit verlässt, ist das, als würde man sein Haus in den Sand bauen. Menschen, denen man begegnet, offenbaren ihre wahren Seiten oft erst nach Jahren. Um unter solchen Umständen stabil zu sein, muss man sich bis zu den Knien in den Boden eingraben ...“
„Gott hat mir noch keine Kinder geschenkt“, sagt sie zärtlich über das, was vielleicht noch kommen wird oder auch nicht. „Aber es gibt noch so viel mehr zu erforschen. Ich kenne Leute, die alles ausprobiert haben und verbrannt sind wie Ikarus. Ich bin allerdings auch bereit, so weit zu gehen. „Wir werden sehen, was die Flügel zum Schmelzen bringt.“
Jonathan Dean