Chance oder Stress-Situation? Der Name mag auf den ersten Blick leicht verunsichern: Talentcenter. Was steckt hinter der Bezeichnung? Was passiert im Inneren des Gebäudekomplexes? Ist es eine Art „Versuchsanstalt“ für die Jungen des Landes? Mitnichten!
Das 2016 eingeleitete Projekt der Wirtschaftskammer Steiermark, welches gemeinsam mit der Karl-Franzens-Universität Graz ins Leben gerufen wurde, ist kein Private Members’ Club, so viel ist sicher. Willkommen ist jede und jeder. Wie auch die Schüler der Neuen Mittelschule St. Michael und der Neuen Mittelschule Eggersdorf. Eines vorweg: Hier wird nicht auseinanderdividiert.
Das Talentcenter soll – plakativ gesagt – als „Brutstätte“ künftiger Begabungen fungieren und nicht als selektive „Legebatterie“ für einzelne Alleskönner. Um künftig einer noch größeren Zahl von Schülern die Möglichkeit fundierter Begabungstests zu bieten, werden die Kapazitäten des Talentcenters mit kommendem Schuljahr sogar ausgebaut. Konkret bedeutet das, dass das Testangebot jährlich bis zu 9000 Interessierte nützen können. Im ersten Jahr kamen bereits rund 4000 Schüler in den Genuss dieser Orientierungshilfe.
Auf Basis wissenschaftlicher Methoden können sich 13- bis 15-Jährige auf Herz und Nieren prüfen lassen. Dabei werden vor allem motorische und kognitive Fähigkeiten und berufsrelevante, allgemeine Kenntnisse unter die Lupe genommen, was dazu führen soll, dass die Berufswahl leichter fällt.
Auch Natascha und Kevin machen sich auf die Suche nach ihren verborgenen Fähigkeiten. Natascha hegt bereits den Wunsch, ihren organisatorischen Scharfsinn in naher Zukunft als Bürokauffrau unter Beweis zu stellen. Der Schwerpunkt „Controlling, Wirtschaft und Steuern“ der HAK Bruck erscheint ihr dafür genau richtig zu sein.
Kevin hingegen hat bis dato mit seinem zukünftigen Berufsweg kein Rendezvous arrangiert. „Die Arbeit mit Kindern würde mich interessieren – oder Busfahrer. Auf jeden Fall etwas, das nichts mit handwerklichem Geschick zu tun hat.“
Schelmisch merkt der Jugendliche an, dass der Test auch für den einen oder anderen Lehrer recht zweckdienlich sein könnte. Viel Zeit für Augenzwinkereien bleibt jedoch nicht. Kevin ist an der Reihe und entert die erste Teststation.
Im Erdgeschoß, gleich neben der Kletterwand und den Drehfußballtischen (welche der zwischenzeitlichen Entspannung dienen), erstreckt sich eine schlängelnde Stange über den Tisch. „Schaut fast wie der Formel-1-Ring in Spielberg aus“, stellt der Lehrer fest. Ob jeder ruhig Blut bewahren, gar ohne Fehler ins Ziel kommen kann? Mit einer Art Ring, der sich um die Stange windet, diese aber nicht berühren soll, müssen die Schülerinnen und Schüler von links nach rechts wandern. Gleich nebenan müssen dünne Metallstäbchen an der richtigen Stelle gebogen werden, um in die dafür vorgesehene Bodenvertiefung zu passen.
Eine weitere Versuchsstation soll die Auge-Hand-Fuß-Koordination eruieren. Mit einem Mini-Kran soll eine Kugel wie beim Basketball in einen Korb geworfen werden.
An dieser Stelle fühlt man sich unfreiwillig in seine Kindheit zurückversetzt. Man erinnert sich an die zahlreichen vergeblichen Versuche, in der Spielhalle eines der Plüschtiere mithilfe einer Krankralle ans Tageslicht zu befördern und in den Händen halten zu können. Die Jugendlichen der Neuen Mittelschulen schlagen sich an diesem Tag im Talentcenter eindeutig besser.
Doch an diesem Tag warten noch deutlich mehr Aufgaben auf die Klasse. Beim Computertest im ersten Stock werden logisch-kognitive Analysen erstellt. Die zentralen Bereiche heißen: Merkfähigkeit, 2D-Raumvorstellung, Wortflüssigkeit, logisches Denken mit Zahlen und Figuren und arithmetisches Verständnis.
Ein anderer Teil der computerbasierten Tests bezieht sich auf allgemeine Fertigkeiten und berufsrelevante Kenntnisse. Liegen die Stärken der jeweiligen Jugendlichen eher im Bereich der Sprachen oder im praktischen Rechnen? Wie organisieren sich die Schüler? Wie hoch ist die Beobachtungsgabe und Konzentrationsfähigkeit? Haben die Getesteten ein Gespür für computerbasiertes Arbeiten? Der PC passt sich dabei stets an die jeweilige Herangehensweise der verschiedenen Personen an. Somit durchläuft niemand denselben Test. Alles bleibt individuell.
Nachdem Andre die 36 Teststationen durchlaufen hat, wird er wissen, ob sein Berufswunsch auch im sogenannten Talentreport, einem ausführlichen digitalen Feedbackbogen, aufscheint. Den 15-Jährigen treiben klare Vorstellungen an. Er möchte Physiotherapeut werden. Dafür muss er weitere fünf Jahre in die Schule gehen und danach studieren. „Bewerben werde ich mich dann sowohl in Graz als auch in Wien und Klagenfurt. Dadurch steigen meine Chancen!“
Seine ersten Erfahrungen hat er bereits unter Dach und Fach. Im Rahmen eines Praktikums im physikalischen Ambulatorium in Bruck konnte er erste Arbeitsluft schnuppern. Vielleicht behandelt er in absehbarer Zukunft die Spieler seines spanischen Lieblingsklubs, des FC Barcelona. Selbst wenn der Testcomputer ein völlig anderes Bild von ihm zeichnet, Andre wird Physiotherapeut. So viel ist sicher.
Dabei hat das Talentcenter gar nicht die Absicht, vorhandene Selbstkenntnis zu verwehren, die Getesteten gar vom geplanten Weg abzubringen. Die Analyse soll vor allem dazu beitragen, dass jeder aus seinem Vollen schöpft, niemand zu viel Zeit mit seinen Schwächen verbringt, sondern sich vielmehr auf seine Neigungen und Stärken fokussiert.
Im Falle Andres könnte das dann zum Beispiel heißen, dass dieser neben seinem Interesse an medizinischen Themen außerdem sein Feingefühl für Fremdsprachen entdeckt. Er hätte somit ein Argument mehr in der Tasche, in ferner Zukunft für den FC Barcelona zu arbeiten. Was zählt und sich in der Welt der Arbeit bezahlt macht, sind die Stärken, nicht die Schwächen.