Herr Präsident Leitl, als Sie im Juni ein Konzept für eine radikale Reform der Lehrlingsausbildung präsentiert haben, nannten Sie als Zeithorizont bis zur Umsetzung zwei Jahre. Woher nehmen Sie angesichts des sonstigen Reformstaus diesen Optimismus?
CHRISTOPH LEITL: Wir müssen dem immer bedrückenderen Facharbeitermangel rasch etwas entgegensetzen. Es ist längst ein Wettbewerb um die besten Talente ausgebrochen. Die Einstellung, es läuft eh gut, wir brauchen keine Veränderung, ist gefährlich. Sind wir erst vom Zug abgehängt, ist nachträgliches Ankoppeln unmöglich. Jetzt haben wir noch die Chance, das beste Bildungssystem der Welt zu bekommen.
Meinen Sie das ernst?
LEITL: Warum nicht? Mir tut es weh, dass niemand über dieses ambitionierte Ziel redet. Bei der dualen Ausbildung sind wir Klassenprimus, Europameister, beim Pisa-Test fallen wir durch. Was wir im dualen Bereich können, sollten wir auch im allgemeinen Schulwesen zusammenbringen.
Ist es ein realistisches Ziel?
ANDREAS SALCHER: Von den Ressourcen haben wir je nach Rechnung das dritt- oder viertteuerste Bildungssystem der Welt. Alle Länder mit besseren Schulsystemen geben weniger aus. Die Strategien der Koalitionsparteien gehen leider völlig in die falsche Richtung.
Die verpflichtenden zwei Lehrer in der Neuen Mittelschule und die Reduktion der Schülerzahl je Klasse führen zu einer weiteren künstlichen Verknappung der wichtigsten Ressource: des guten Lehrers.
LEITL: Durch die demografische Entwicklung werden Schulen um ihre Existenz und Lehrer um Posten und Einkommen kämpfen. Das ganze System droht zu verkrampfen und die Lehre zu einer Restgröße zu verkommen. Die Lehre hat ein Problem mit dem Sozialprestige. Die Gescheiteren machen die Schule, die weniger Gescheiten eine Lehre. Dieses Bild ist noch immer drinnen, auch wenn es nicht mehr stimmt.
Kern der Reformvorschläge ist der Zugang zum Fachhochschul- oder Hochschulstudium auch für jene, die sich mit 15 für eine Lehre entscheiden. Was ist der Sinn?
LEITL: So jungen Menschen nicht sagen zu müssen, entscheidet euch entweder zwischen Beruf oder allgemeiner Bildung. Wir machen das Angebot, beides zu kombinieren, sich zu entwickeln. Jedem Menschen sollten nach seinen Möglichkeiten alle Wege offenstehen, bis zur Universität. Die Gefahr, dass man jemanden in der Universität hinaufschwindelt, sehe ich weniger. Ich sehe das Problem eher umgekehrt: Heute muss ein AHSler an die Uni, was soll er sonst machen?
SALCHER: Die Mehrheit der 15-Jährigen besucht keine AHS, sondern eine andere Schule. Da zeigt sich einmal mehr die ideologische Verengung unserer Großparteien, wenn sich die Diskussion immer nur um die AHS oder Gesamtschule dreht. Mit dem Ergebnis, dass die OECD uns ein sozial diskriminierendes System bescheinigt. Wenn aber 21 Prozent der 15-Jährigen de facto Analphabeten sind, dann untergraben wir auch das sehr erfolgreiche duale Ausbildungssystem.
Jenen, die derzeit aus dem System herausfallen, nützt die Möglichkeit des Uni-Zugangs wenig.
LEITL: Die Wirtschaft kann und will nicht auf diese 10.000 Jugendlichen, die derzeit jährlich nach der Pflichtschule aufhören oder die Lehre abbrechen, verzichten - abgesehen vom enormen Sprengstoff, den diese Entwicklung birgt. Wir müssen sie wiedereingliedern, qualifizieren, die Übertrittsmöglichkeit in eine normale Lehre schaffen. Ziel ist die mittlere Reife für alle. Ich bin überzeugt, jeder Mensch hat ein Begabungspotenzial.
SALCHER: Es gibt einen Punkt, wo man Unternehmen nicht mehr zumuten kann, Berufseinsteigern Grundrechnungsarten, Lesen und Schreiben beizubringen. Ein Schulsystem, das das in neun Jahren nicht vermittelt, hat total versagt zulasten der Schüler und Eltern. Das ist indiskutabel.
Gibt es Reaktionen der Sozialpartner auf die Reformvorschläge?
LEITL: Zumindest keine negativen. Im Herbst werden wir dann diskutieren. Grundsätzlich sind wir Sozialpartner sehr pragmatisch.
Könnte die Reform der dualen Ausbildung der Hebel für eine gesamte Bildungsreform sein?
LEITL: Wenn ich die duale Bildungsreform an eine gesamtheitliche anhänge, warte ich zehn Jahre. Die Zeit habe ich nicht.
SALCHER:Für eine große Reform brauchen wir nationalen Konsens, ein großes Ziel. Meine Vision ist ein Schulsystem, das auch die kreativen, sozialen, kommunikativen Talente erfasst. Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi sagt, das ist schwierig, aber es geht. Dann würden die Delegationen nicht nach Finnland, sondern nach Österreich reisen.
INTERVIEW: CLAUDIA HAASE