Heimatlos, herrenlos
Saskia Hennig von Lange schreibt in einer musikalischen Sprache, die hochpräzise verhandelt, wie der Körper im Raum, der Mensch in der Welt steht und sich zu dem verhält, was ihn umgibt. In ihrem neuen Roman „HEIM“ geht es um ein Mädchen, das nicht im Elternhaus aufwachsen kann, sondern ins Heim kommt, weil die Eltern ihr genau das nicht bieten können. Keine klassische Strandlektüre, aber herausragende Literatur.
Saskia Hennig von Lange. HEIM. Jung und Jung, 24 Euro.
Ein zweites Highlight wird für mich der neue Roman von Jana Volkmann. Erzählt wird von einer Sommernacht in der Wiener Innenstadt, zwei Frauen begegnen auf dem Heimweg einem herrenlosen Pferd, das mit ihnen nach Hause geht und ihren Vorgarten besiedelt. Eine Entdeckung!
Jana Volkmann. Der beste Tag seit Langem. Residenz, 27 €.
Mythisch, erhellend
Bei Denis Pfabes Debütroman „Der Tag endet mit dem Licht“ hat mich der Umschlag in den Bann gezogen. Er zeigt eine stimmungsvolle Fotografie des Österreichers Ernst Haas. Pfabe erzählt vom Roadtrip eines Konzeptkünstlers durch die USA, getrieben von einem Kindheitstrauma – kunstvoll, intensiv, mythisch.
Denis Pfabe. Der Tag endet mit dem Licht. Rowohlt Berlin, 20,60 Euro.
Die US-Autorin bell hooks zeichnet in diesem Buch nach, wie sie sich als schwarze Frau von ihrer patriarchalen Familie befreit und den Feminismus entdeckt. Dieser lässt für sie jedoch eine Frage offen: Wie finden wir Liebe? Mit warmherziger Sprache und ohne jegliche Schuldzuweisungen spürt sie dem nach. Eine erhellende Lektüre, auch und gerade für Männer.
bell hooks. Lieben Lernen. HarperCollins, 23,50 Euro.
Fröhlich und frei
Wen unser aller Gegenwart bisweilen ratlos sein lässt, dem hilft dieses Meisterwerk des Denkens (das von dessen Vergeblichkeit handelt), von den eigenen Gedanken Abstand zu nehmen. Was auf überraschende Weise fröhlich macht. Und frei für eine gedankenlose Lücke – und dann für ganz neue, noch nie gedachte Gedanken. Ich lese George Steiners „Warum Denken traurig macht“ einmal im Jahr und in akuten Anfällen von Sinnverlust.
George Steiner. Warum Denken traurig macht. Suhrkamp, 10 Euro.
Auf nie gedachte Gedanken komme ich auch beim Lesen und Anschauen des fabelhaften Kinderbuches „stopptanzstill!“ Fröhlich bin ich dem Dichter durch Wien zu wundersamen versteckten Figuren gefolgt und sogleich will ich mit mir selbst durch die ganze Welt spazieren. Siehe da, sie ist mir plötzlich vollkommen neu! Was gibt’s Schöneres?!
Michael Hammerschmid. stopptanzstill! Picus, 19 Euro.
Mehr als „lesenswert“
Herman Melville ist für seinen „Moby-Dick“ bekannt. In seinen Erzählungen zeigt er sich ähnlich wild, bleibt jedoch knapp. Die Geschichten etwa um eine Meuterei von Sklaven „Benito Cereno“ oder den schönen Matrosen „Billy Budd“, dessen Hinrichtung jedem Gerechtigkeitsgefühl widerspricht, berühren bis heute.
Herman Melville. Billy Budd. Hanser, 38 Euro.
Drei junge europäische Frauen, Georgiana, Dobrinka und Beatriz gehen im Debüt „Raupenfell“ der Autorin und Teilnehmerin beim diesjährigen Bachmannpreis, Tamara Štajner, konsequent ihren herausfordernden Weg. Der Roman ist auch eine Hommage an die Städte Wien und Porto. Štajner erzählt ambitioniert, präzise und spannend von der Bedeutung des Lebens.
Tamara Štajner. Raupenfell. Das Wunderhorn, 29,50 Euro.
Reiselustig bis ins Meer
Das aktuell schönste Reisebuch ist „Iowa“ von Stefanie Sargnagel. Ihren Trip in einen Flächenstaat der USA, bestehend aus unendlichen Maisfeldern, Mais zur Schweinemast, verdankte sie einem Lehrauftrag, zu dem sie zunächst von der deutschen Musikerin Christiane Rösinger und später von ihrer Mutter begleitet wird. Diese Mischung aus neugieriger Fassungslosigkeit und deprimierendem Exotismus macht das Buch zu einem vergnüglichen Roadtrip der ganz besonderen Art.
Stefanie Sargnagel. Iowa. Rowohlt, 23,50 Euro.
Das Seepferdchenmännchen brütet die Eier aus, gelebte unterseeische Gleichberechtigung als Vorbild einer besseren Welt zwischen den Geschlechtern. So schillernd schön beschrieben, wie es diese anmutigen Tiere verdienen.
Andrea Grill. Seepferdchen. Mattes & Seitz, 23,50 Euro.
Surreal absurd
Zurzeit lese ich „Das Herz ist ein einsamer Jäger“. Liebevoll, aber schonungslos widmet die Autorin sich den Außenseiter:innen in einer Gesellschaft, die auf Vereinzelung ausgerichtet ist. Die Szenen haben, obwohl realistisch, immer wieder einen surrealen Anschein, wie man ihn aus den Filmen von Robert Altman kennt.
Carson McCullers. Das Herz ist ein einsamer Jäger. Diogenes, 16 Euro.
Wer sich für den Literaturbetrieb mit seinen Absurditäten interessiert, der ist bei Rachel Cusks „Outline“-Trilogie genau richtig. Die Autorin geht immer wieder auf Lesereisen, ihre schrägen Begegnungen beschreibt sie in indirekter Rede, die sich oft in fast bernhardeske Suaden versteigt, wenn etwa ihr Verleger sich über die Verpuffung der Literatur am Markt auslässt.
Rachel Cusk. Outline. Trilogie. Suhrkamp, 13,10 Euro.
Von wegen Ramsch
Als erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte hat sich Vicki Baum selbst bezeichnet. Eine vergessene Verfasserin von Weltbestsellern des vorigen Jahrhunderts. Ich bin ihr oft in Ramschkisten begegnet und habe sie für sentimentalen Tränendrüsenkäse gehalten. Völlig zu Unrecht, wie die Lektüre ihrer Lebenserinnerungen zeigt. Baum erzählt vom Wien der Kaiserzeit, einem hypochondrisch veranlagten Vater, von gescheiterten Ehen, Berlin und Hollywood – und das so selbstironisch, dass das Buch nicht bloß als Zeitdokument spannend zu lesen ist. Eine fantastische Schriftstellerin, kein bisschen angestaubt.
Vicky Baum. Es war alles ganz anders. KiWi, 13,90 Euro.
Virginie Despentes‘ archaisch wilde Prosa katapultiert einen ins 21. Jahrhundert zurück. Gut, dass ihr Erstling „Baise-moi – Fick mich“ nun auch (wieder) auf Deutsch erhältlich ist. Lesen!
Virginie Despentes. Baise-moi. KiWi (TB), 15 Euro.