Die Gründe sind vielfältig, wenn Kinder und Jugendliche vorzeitig die Obhut ihrer Eltern – freiwillig oder unfreiwillig – verlassen. Oft sind die Eltern nicht in der Lage, ihrer Erziehungspflicht nachzukommen. Oft sind es Gerichtsbeschlüsse, die Kinder und Jugendliche aus ihrer Familie herauslösen und in Betreuungseinrichtungen unterbringen. Wie auch immer die Umstände, eines haben diese „Care Leaver“ genannten jungen Menschen gemeinsam: schlechte Bildungschancen.
Stephan Sting vom Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität erforscht mit einem Team (siehe Info) seit dem Frühjahr 2016, wieso es um die Bildungswege der „Care Leaver“ so schlecht bestellt ist. „Wir haben junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren untersucht, die eine gewisse Zeit ihrer Jugend in Betreuungseinrichtungen verbringen mussten. In unserer Befragung ging es vor allem darum, wie sie ihre Bildungswege gestaltet haben“, sagt Sting. 148 „Care Leaver“ haben an einer Fragebogenerhebung teilgenommen, mit weiteren 23 konnten Sting und sein Team vertiefende Interviews führen.
Die Auswertung dieser Erhebungen brachte zunächst erwartbare Ergebnisse für die Forscher: „Es hat sich bestätigt, dass die ,Care Leaver‘ über einen durchschnittlich niedrigeren Bildungsstand als die Gesamtbevölkerung verfügen. Bei der Wahl ihres Bildungsweges fällt auch auf, dass Lehrabschlüsse bei ihnen wesentlich häufiger vorkommen als höhere Abschlüsse wie zum Beispiel die Matura“, sagt Sting. Der Sozialpädagoge erklärt diese Umstände einerseits mit der häufigen Bildungsferne der Eltern, deren Kinder in Betreuungseinrichtungen landen.
Jugendheime würden laut Sting aber auch selbst dazu beitragen, ihre Schützlinge in Richtung Lehre zu drängen: „Die Betreuer trauen ihren Schützlingen oft zu wenig zu. Außerdem lockt die schnellere finanzielle Unabhängigkeit im Lehrberuf die Jugendlichen, weil sie meist wirtschaftlich völlig auf sich allein gestellt sind, sobald sie aus der Fürsorge entlassen werden.“ Sting fordert daher, die starke Orientierung hin zur Lehre in Betreuungseinrichtungen zu überdenken und gleichzeitig Unterstützungssysteme einzurichten, die „Care Leavern“ höhere Bildungswege ermöglichen. Auch das Betreuungsende mit dem Erreichen des 18. Lebensjahrs sei zu hinterfragen.
Ein weiterer Aspekt, der sich in den Befragungen herauskristallisiert hat, ist die enorme Bedeutung von gleichaltrigen Bezugspersonen, die viel größeren Einfluss auf das Bildungsniveau der „Care Leaver“ haben als etwa ihre Betreuer oder Lehrer. „Selbst wenn diese sogenannten ,Peers‘ selbst keine höhere Bildung anstreben, können sie ihre Freunde trotzdem zum Erreichen höherer Abschlüsse motivieren“, sagt Sting.
Schätzungen zufolge sind es um die 11.000 junge Menschen, die in Österreich unter die Kategorie „Care Leaver“ fallen – offizielle Statistiken zu dieser Bevölkerungsgruppe gibt es keine. Für die Studie konnten die AAU-Forscher aber Teilnehmer aus sieben Bundesländern Österreichs gewinnen. Sie wird im Herbst publiziert.