Die Anforderungen an Lehrer sind heute vielschichtig wie nie zuvor – neben Stoffvermittler müssen sie Erzieher, Sozialarbeiter und Experten für Soziale Medien sein. Lässt sich so eine Vielfalt überhaupt in einem Beruf vereinen – oder brauchen Lehrer jetzt mehr denn je Unterstützung im Klassenzimmer?
WILLI STADELMANN: Der Lehrerberuf ist einer der anspruchsvollsten und vielseitigsten überhaupt. Für die Lehrerbildung bedeutet das, dass Studierende Experten ihrer Fächer, für Lehren, Lernen und Fördern und für Zusammenarbeit, zu Führungspersönlichkeiten und zu aktiven Problemlösern aus- und weitergebildet werden müssen. Lehrerbildung ist nie abgeschlossen. Und Unterstützung ist wichtiger denn je: Hilfreich sind sicher Teamwork im Lehrerteam und wenn möglich mehrere Lehrpersonen im Klassenunterricht. Lehrerinnen verdienen eine viel höhere Anerkennung ihrer Tätigkeiten in der Gesellschaft.
Sie führen in Ihren Vorträgen aus, dass es kein Rezept für die „gute Lehrperson“ gebe. Muss man als Lehrer also a priori ein Talent zu Lehre haben?
Es gibt kein Apriori-Talent für den Lehrberuf. Niemand ist „geborene Lehrperson“. Es gibt kein „Lehrer-Gen“. Studierende, die das Lehrerstudium ergreifen, sollten möglichst eine individuelle Biografie mitbringen, die in ihnen Wertschätzung gegenüber Kindern, Begeisterungsfähigkeit, Offenheit gegenüber Neuem sowie Wille und Fähigkeit zur Zusammenarbeit geprägt hat. Der eigentliche Beruf des Lehrers ist lernbar: Lehrerbildung ist Berufsbildung auf wissenschaftlichem Fundament. Ein allein seligmachendes Rezept für guten Unterricht gibt es nicht. Er hängt sehr stark von der Persönlichkeit der Lehrperson ab, das wussten wir schon lange vor der Hattie-Studie. Man kann mit sehr verschiedenen persönlichen Eigenschaften eine gute Lehrperson sein; guter Unterricht lebt stark von Individualität und persönlicher Ausstrahlung.
Kommen wir vom Lehren zum Lernen. Sie sagen, dass die soziale Umgebung unser Lernen stimuliert? Wie erklären Sie das?
Lernen ist ein lebenslanger, individueller Prozess. Er wird in jedem Individuum auf der Basis der Erbmerkmale, die es auf die Welt mitbringt, insbesondere durch die soziale Umwelt stimuliert. Kinder müssen Lernfähigkeit lernen; sie kommen nicht damit auf die Welt. Heute wissen wir, dass auch Erbmerkmale nicht Konstanten sind, sondern dass durch epigenetische Prozesse Einfluss auf sie genommen wird. Die Umwelt spielt also von Geburt an eine zentrale Rolle für die Entwicklung der Lernfähigkeit, der „Begabung“, eines Menschen.
Wenn Sie in die Zukunft blicken, was wird sich ändern bei der Art, wie wir lernen?
Seit der Entwicklung des menschlichen Gehirns laufen die individuellen Lernprozesse nach den gleichen „Regeln“ seiner Veränderbarkeit ab. Das menschliche Gehirn hat sich seit den Höhlenbewohnern kaum gewandelt. Es wird immer so sein, dass die Umwelt, die Anregung zum „Selbst-Tun“, individuelle Emotionen und Gefühle, andere uns beeinflussende Menschen, die Wahrnehmung der Natur und so weiter die Hirnentwicklung, also Lernprozesse ermöglichen. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Die Hauptaufgabe von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern wird immer sein, ihr ganzes Tun darauf zu richten, dass Kinder selbst innerlich und äußerlich tätig werden können, dass Kinder ihre Neugier nicht verlieren. Wenn die Neugier versiegt, wird lernen und lehren schwierig. Lernen wird immer „selbst tun“ bedeuten.