Sie haben mit 28 Jahren mit 53 Weltcupsiegen die mit Abstand erfolgreichste Karriere in der Skispringer-Szene hinter sich, aber auch zuletzt eine Phase erlebt, in der sie in einer tiefen Leistungs- und Sinnkrise gesteckt sind. Sie haben schließlich ein Jahr Pause eingelegt und sind erst dann wieder in den Weltcup zurückgekehrt. Was ist einfacher: Eine Karriere aufzubauen, an deren Höhepunkt schließlich 53 Weltcupsiege stehen - oder aus einem erfolgsmäßigen Loch herauszufinden? Lässt sich das vergleichen?
Gregor Schlierenzauer: Die Wurzel ist die gleiche. Der Erfolg ist ja nur die „Folge“ eines Weges, deshalb heißt er ja Erfolg. Zu Beginn plant man ja nichts. Ich bin ja nicht hergegangen und habe gesagt, ich möchte 53 Weltcupsiege erreichen. Sondern es war die Vision da und die Liebe zum Sport, die die Basis für alles war, was dann gekommen ist.
Ist es leichter, an die Spitze zu kommen oder an der Spitze zu bleiben?
Grundsätzlich heißt es, oben zu bleiben ist schwieriger. Aber ich glaube, dass man das nicht pauschal sagen kann.
Und wenn man plötzlich in ein Loch absackt - was dann?
An diesem Punkt war ich vor zwei Jahren. Natürlich kann man sagen, der ist ja privilegiert und es gibt Schlimmeres im Leben. Stimmt. Aber wenn man selbst davon betroffen ist und der Boden unter den Füßen wegbricht, dann gilt es, sich selbst wieder zu finden.
Wie hat das funktioniert?
Das Wichtigste ist es, wieder seine Wurzeln zu entdecken, Ziele und Visionen zu haben und einen Sinn darin zu erkennen. Das sind intensive Auseinandersetzungen mit sich selbst. Mit 25 Jahren in den Spiegel zu schauen und zu fragen: Wer ist man überhaupt, was treibt einen an, was kann man und wohin will man? Da bin ich dann auf die Suche gegangen. Um das Feuer wieder zu kriegen, habe ich alles Negative ausgeblendet - in meinem Fall den öffentlichen Druck, das Image und andere Faktoren - um den Spaß wiederzufinden.
Was ist der Spaß beim Skispringen?
Das Gefühl in der Luft. Es bedeutet Freiheit. Das ist seit Beginn meine Antriebskraft. Egal wer man ist und was man macht: Dieses Gefühl darf man nie vergessen und verlernen.
War dieses Bewusstsein bei Ihnen verloren gegangen?
Ich würde nicht sagen, dass es verloren gegangen ist, aber manchmal war es durch viele Faktoren und Einflüsse von außen vielleicht ein bisschen zugeschüttet und ich musste es wieder entdecken. Diese Phasen im Leben kennen aber viele. Genau in diesen schwierigen Phasen ist es wichtig, sich daran zu erinnern, was einem Kraft und Energie gibt.
Gibt es Anzeichen, dass die Flamme der Begeisterung in einem erlöscht?
Wenn man die Liebe zu Dingen und Personen verliert, wird es schwierig. Da ist es wichtig, die Situation anzunehmen und sich einzugestehen: Es geht mir schlecht. Das zu akzeptieren, ist für einen Spitzensportler vielleicht noch schwieriger. Am Ende des Tages braucht man Zeit und Ruhe, um die Fragezeichen im Kopf wegzubekommen.
Hätte ein 54. Weltcupsieg nach all dem, was Sie in der jüngsten Vergangenheit erlebt haben, mehr Wertigkeit für Sie als einer der vorherigen?
Für die Öffentlichkeit wäre es vielleicht so, weil es eine Geschichte ist. Für mich persönlich bleibt es gleich, weil es ohnehin jeden Tag wichtig ist, seine Herausforderungen anzugehen und zu leben und darauf zu achten, dass die Seele im Frieden ist, egal in welcher Lebenslage man ist. Ob man dann Siege feiert, ein Unternehmen aufbaut, Gewinne schreibt, Familie gründet, ein Haus baut ...
Haben Sie sich in den Phasen, in denen es nicht so gut gelaufen ist, fallen gelassen gefühlt? Von Ihrer Umgebung? Der Gerechtigkeit des Lebens?
Jein; natürlich macht man sich so seine Gedanken und fragt sich, warum eine Verletzung gerade in diesem Moment passiert oder warum gerade ich. Aber wenn ich eines gelernt habe, dann, dass es wichtig ist, demütig zu bleiben. Dass man es schätzen lernt, wie gut es einem eigentlich geht. Das hat weniger mit sportlichem Erfolg zu tun, sondern eher mit dem Empfinden, dass man täglich das tun darf, was Spaß macht. Ich stecke in einem sehr lässigen Leben, in dem ich mit mir selbst arbeiten darf, in dem ich mein Potenzial jeden Tag aufs Neue herausfordern kann. Das ist das, was mir Energie gibt.
Es ist also nicht der Erfolg, sondern der Erfolgsweg, der es im Leben ausmacht?
So ist es. Es ist nicht der Sieg, der anders ist, sondern die Geschichte dahinter.
Ihre Geschichte lief im Schnellvorlauf: Mit 16 Jahren haben Sie das erste Mal im Weltcup gewonnen. Ist es bei Ihnen zu schnell gegangen mit dem Erfolg?
Die Frage bekomme ich oft gestellt - und sie impliziert, ob ich nicht irgendetwas in meiner Jugend versäumt habe, ob ich irgendetwas vermisse, weil so früh alles auf den Sport fokussiert wurde. Aber es ist nicht wert, über diese Frage nachzudenken. So wie es kommt, so kommt's - und so ist es genau richtig und wichtig. Das Wichtigste ist, im Moment zu leben. Alles, was Vergangenheit ist, ist sehr schön und eine tolle Erfahrung gewesen - mit dem kann man sich aber wenig kaufen. Es geht weiter - nur die Gefühle des Moments bleiben. Die Zeit ist eben - im Spitzensport wie in der Wirtschaft - sehr schnelllebig geworden und man muss täglich seine Leistung bringen.
Gibt es ein Ziel?
Natürlich gibt es das Ziel, wieder ganz nach oben zu kommen und mein Potenzial wieder voll abzurufen. Einfach die Bewegung so intensiv wahrzunehmen, dass ich am Ende im Auslauf so (er schiebt den Unterarm nach oben und ballt die Faust, Anm.) machen kann. Das macht's aus! Die Folge davon ist meist der Erfolg. Aber der Weg dorthin ist, wenn man sich ehrlich ist, viel erfüllender. Man wird später einmal zu Hause nicht über die Olympiamedaillen und Pokale reden, sondern über die Geschichte, Pläne, Herausforderungen und den Weg dorthin. Und ich habe das Gefühl, dass das noch nicht das Ende war.
Klaus Höfler