"Is des scheen!“, ruft mir Felix Gall auf seiner rot-blauen BMC-Maschine zu. Vor uns die Lienzer Dolomiten. Dann geht er in Aeroposition. 93 km/h, 94 km/h, 95 km/h: Ich muss reißen lassen. Kurz vor der Abfahrt von Bannberg Richtung Lienz mache ich den Mann im weißen Trikot noch darauf aufmerksam, dass ich nicht der beste Abfahrer bin. Seine Antwort beweist, dass seine Lockerheit nicht gespielt ist: „I ah nit.“
Bei der 17. Etappe der Tour de France, vom Col de la Loze hinunter, bewies Felix Gall, dass die Sache mit dem schlechten Abfahrer so gar nicht stimmt. Er brachte den Vorsprung, den er sich bergauf erarbeitet hatte, sicher ins Ziel. Es war der bisher größte Moment in der Radsportkarriere des 25-jährigen Osttirolers.
Rad im Eck
Es war der Sieg bei der Königsetappe der Frankreich-Rundfahrt – dem größten Radrennen der Welt. Mittlerweile ist Österreichs Tourheld wieder in der Heimat angekommen, in Osttirol. „Ich war schon Golf spielen. Heute gehe ich wieder“, sagt er. Bei unserer gemeinsamen Trainingsfahrt lockert er noch einmal die Beine, bevor er das Rad für eine Woche in die Ecke stellt. Golfen ist der perfekte Ausgleich für ihn, die zweite Leidenschaft. Eine, die er mit Marco Haller teilt. Gall und der Kärntner Bora-Profi verstehen sich wunderbar. Generell sei die Stimmung der Österreicher untereinander im Peloton eine fruchtbare.
Seit Gall zurück in Österreich ist, besteht sein Job mehr aus Medienarbeit und weniger aus hartem Training. Den hippen deutschen Podcast-Machern von „Besenwagen“ rund um Paul Voss hat er vorerst abgesagt. Stattdessen redet er mit den Osttiroler Journalisten. Etwa mit der Kleinen Zeitung bei einer Kaffeefahrt.
Wir treten beide mit rund 230 Watt hinauf nach Bannberg. Wenn Felix Gall über die Tour spricht, berichtet er von vielen Höhen. Und dennoch lässt er die Tiefen nicht aus. Er erinnert sich an eine Sprinteretappe, an dem er mental am Boden war. „Meine Teamkollegen im Bus haben mich dann aufgebaut“, sagt er, nimmt die Brille ab und legt sie auf den Nacken.
Die französische Rivalität
Bei AG2R Citroën fühlt sich Felix Gall wohl. Wohl auch wegen seiner Beziehung zum Australier Ben O’Connor. Er und Gall haben während der Tour die Rollen getauscht. Gall wurde Kapitän, O’Connor Helfer. Seine französische Equipe hat Gall zu jenem Mann auserkoren, der in der Gesamtwertung David Gaudu hinter sich lassen soll. Gaudu ist der Star des anderen großen französischen Radteams, Groupama-FDJ. „Nach meinem Etappensieg herrschte Eiszeit“, erinnert sich Gall. Weil Gall Gaudu tatsächlich geschlagen hat, dauert sie an.
Gall gehört nun zu den Stars im Radsport. Beim Kaffeestopp an der Isel sind Selfies mit ihm gefragt. „Bleib so wie du bisch. Am Boden, gell“, sagt ein eingesessener Lienzer Friseur. Derzeit ist Gall beim Siedeln. Von zuhause, von Nußdorf-Debant, geht es in eine Wohnung. Doch er zieht nicht wie der slowenische Superstar Tadej Pogacar nach Monte Carlo ans Mittelmeer. Gall bleibt in Osttirol. Es geht in eine Wohnung nach Lienz. „Monaco ist mir zu oberflächlich. Da ist so viel Geld im Umlauf“, sagt er.
Und ein Umzug in die Nobelstadt sei auch aus praktischen Gründen undenkbar. Hier in Osttirol hat er seine vertraute Umgebung. Die Pustertaler Höhenstraße fährt er gerne hinauf, oder über den Radweg ins Iseltal. „Und der Gailberg ist der perfekte Anstieg fürs Intervalltraining“, erklärt er. Zuhause ist Felix Gall aber ohnehin nicht ganz so oft.
Die Geschichte hinter dem schwarzen Rad
Bei unserer Ausfahrt fährt Gall das rot-blaue Rad von BMC. Bei der Tour war er auf den schweren Etappen auf einem schwarzen Bike zu sehen. „Das war ein Masterpiece“, sagt Felix Gall. Das Premiumgerät mit noch besserem Carbonbau bekommen im Team nur jene Sportler, die das Potenzial zum Siegen haben. Erst nach der Tour de Suisse organisierte man für den Osttiroler auf die Schnelle ein Masterpiece. Es hat sich ausgezahlt.
Den Triumph auf dem Flugplatz von Courchevel hat vor den Endgeräten ein Millionenpublikum verfolgt. Und Millionen Radsportfans werden ihn im nächsten Jahr beim Streamingriesen Netflix wiedersehen. Das Radsport-Dokudrama arbeitet die diesjährige Tour auf. Das Team von Felix Gall wurde dafür schon in der Vorbereitung begleitet. In der Sierra Nevada konzentrierte sich das Produktionsteam noch auf Kapitän O’Connor. Der neue Kapitän, Gall, dürfte aber eine entsprechende Rolle spielen.
Heuer warten auf den Osttiroler noch ein paar Pflichtaufgaben. Die China-Rundfahrt fährt er doch nicht. Vielleicht hat er zu dieser Zeit, im Oktober, in der Heimat ohnehin Wichtigeres zu tun. Gall ist Topfavorit für den Titel „Österreichs Sportler des Jahres“. Alles deutet darauf hin, dass es ein feiner Gal(l)a-Abend in Wien wird.
Michael Egger