Es ist Wochenmitte. Kein Mensch ist auf dem Kirchplatz von Matrei in Osttirol. Klatschnass klebt die Fahne des Ortsheiligen Alban, der mit seinem Kopf in der Hand, an der Stange. Es scheint, als würde er sich verstecken. Es regnet. Nebel hüllen die Tauerngemeinde ein. Die Stimmung passt. Über Matrei ist Ungemach hereingebrochen. Nicht über Nacht. Aufgebrochen ist, was schon lange gegärt hat. Mit 35,7 Millionen Euro steht Matrei in der Kreide. Es gibt Kredite in Höhe von 14,2 Millionen Euro, offene Rechnungen mit 8,8 Millionen Euro und 12,7 Millionen Euro Haftungen. Und es gibt nichts zu deuteln: Die Kommune in den Hohen Tauern ist bankrott.
Selbst gewählt, selbst schuld
33 Jahre Regentschaft durch Bürgermeister Andreas Köll, der einst mächtigster ÖVP Politiker im Bezirk war, wird die Verantwortung zugeschlagen. Erst im Februar 2022 bekam der Ort einen neuen Bürgermeister – Raimund Steiner, einen aus der Opposition. Köll hat nicht mehr kandidiert. Und der Neue hat den Scherm auf. Er ist mit einem möglichen Konkurs der Gemeinde konfrontiert.
Im Zentrum von Matrei gehen die Menschen ihrem Tagesgeschäft nach. Trotz schlechten Wetters herrscht reges Treiben. Scharf weht der Wind aus den Tauern heraus. Vergeblich ist im Ort die Suche nach einem offenen Gasthaus. Es ist Zwischensaison. Wer Lust auf einen Plausch hat, verschwindet im Talmarkt. Dort dominiert der Geruch von geräuchertem Speck. Regionale Produkte werden hier verkauft. Und es gibt eine Schank und einen Stammtisch. Zehn gstandene Matreier sitzen hinter ihm. Die ersten Biere an diesem Vormittag fließen durch die Kehlen.
Geredet wird viel. Doch Fehlanzeige. Zur Finanzlage der Gemeinde will sich hier keiner den Mund verbrennen."Verständlich", sagt eine Unternehmerin, "drei Jahrzehnte Furcht vor Repressalien unter Bürgermeister Köll sitzen bei den Matreiern tief." Man ist aber zum Spaßen aufgelegt. Einer aus der Runde zitiert: "Der Matreier schläft auf seinen Schulden besser als der Oberländer auf seinem Geld." Gelächter folgt. Ein anderer Stammgast weiß zu erzählen, die Matreier seien an der Misere selber schuld, weil sie immer Köll und Co. gewählt hätten. Und ein weiterer wirft ein: "Unglaublich, wie der Köll gewurschtelt hat."
"Kontrolle von oben hat versagt"
An der Schank sitzt der Künstler Peter Raneburger – einer, der sonst nie um Kritik verlegen ist. Sein Kommentar zu den Matreier Schulden: "Kein Kommentar." Ein Pensionist lenkt ein: "Köll allein kann man nicht verantwortlich machen, es waren ja auch seine Gemeinderäte, die immer die Hand gehoben haben." Und Köll habe nicht wenig getan, für die Gemeinde, das dürfe man nicht übersehen. Ein Passant auf der Straße hat einen anderen Zugang. Für ihn steht fest: "Die Kontrolle von oben hat versagt."
Tatsächlich ist es so, dass im Matreier Gemeinderat schon in den 1990er-Jahren von der Opposition wegen der Schulden Alarm geschlagen wurde. Die Aufsichtsbehörde ließ gewähren. 2012 gab es eine behördliche Prüfung die Finanzgebarung. 41,8 Millionen Euro Schulden standen damals zu Buche. 2015 gab es einen vernichtenden Finanzbericht. Zwangsverwaltung stand im Raum. 2018 wurde Matrei vom Land Tirol formal unter Kuratel gestellt.
Land will Konkurs verhindern
Jetzt – unter dem neuen Bürgermeister sucht man Wege aus dem Desaster. Ein 80-prozentiger Ausgleich wurde allen 106 Gläubigern angeboten. Der Tiroler Landeshauptmann Anton Mattle fordert aber 100 Prozent. Und einen Konkurs will er verhindern – mit Steuergeld. Es wäre in Österreich der erste Gemeindekonkurs in der zweiten Republik. Mit Steuergeld will man das vermeiden. Andreas Köll selbst sagt heute: "In den vergangenen 30 Jahren wurden in der Gemeinde 300 Millionen Euro in Basisinfrastruktur investiert."
Zurück ins Zentrum von Matrei. Bernd Hradecky kommt aus der Bank. Er war 15 Jahre lang oppositioneller Gemeinderat. Zur aktuellen Lage gebe es nichts mehr zu sagen. Jahrelang habe man gegen die Schuldenpolitik von Köll gekämpft. "Und ehrlich gesagt, den Matreiern sind die Schulden wurscht, sonst wäre es ja nicht so weit gekommen. Opfoi sagt alles." "Opfoi" ist das Lieblingswort der Matreier. Es bedeute so viel wie – das passt schon, das macht nicht, ist ja wurscht. Es ist die passende Metapher zum kopflosen Alban.