Die Menschen können sich nicht vorstellen, was Krieg mit einem macht“, klagt Tetyana Prodan, die mit ihrem Mann Ihor seit bald zwei Jahren in Lienz lebt. Jedesmal, wenn über ihren Köpfen ein Rettungshubschrauber das Lienzer Bezirkskrankenhaus anfliegt, fährt es den beiden durch Mark und Bein. „Genauso ist es am Samstag, wenn die Sirenen zur Mittagszeit aufheulen. Wir hören den Fliegeralarm.“ Von einem Tag auf den anderen war es vor zwei Jahren mit dem Frieden in ihrer Heimat vorbei. „Wir sind in der Früh aufgestanden und Militärhubschrauber kreisten in der Luft. Man sieht es, aber man glaubt es nicht.“ Bis Bomben fielen und Raketen einschlugen.
Tetyana und Ihor sind zwei Monate nach Kriegsausbruch aus der Ukraine geflohen. Tetyana war als Geschäftsfrau erfolgreich, Ihor arbeitete früher als Programmierer und ist in Pension. „Die allermeisten der insgesamt acht Millionen Ukrainer, die damals in andere Ländern Europas gereist sind, sind wie wir bestens ausgebildet und können Universitätsabschlüsse vorweisen.“ In Osttirol leben bis auf wenige Ausnahmen fast nur Mütter mit ihren Kindern. Und im Vergleich zu den ersten Monaten nach Kriegsbeginn ist ihre Zahl auf die Hälfte zurückgegangen. „So viele junge Familien sind zerrissen. Die Väter kämpfen an der Front, ihre Frauen und Kinder leben weit weg in einem fremden Land. Manche halten den Trennungsschmerz nicht aus und kehren trotz aller Gefahren in die Ukraine zurück.“
Trotz eigenem Einkommen fällt das Leben nicht leicht
Tetyana und Ihor haben in Lienz schnell eine Wohnung gefunden. „Beim ersten Gang über den Hauptplatz haben wir diese kleine Stadt ins Herz geschlossen“, erinnert sich die Ukrainerin. „Ich habe mir sofort gedacht: Das ist der Ort, an dem wir bleiben können.“ Sie seien bei ihrer Ankunft von vielleicht drei Monaten Aufenthalt ausgegangen. Nach zwei Jahren bestimmt die Unsicherheit darüber, wie es weitergeht, ihren Alltag. Denn der Ausweis für Vertriebene aus der Ukraine, auch „Blaue Karte“ genannt, ist nicht mehr als ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht, das nach heutigen Regeln am 4. März 2025 endet. „Ich würde sehr gerne in Lienz mein eigenes Unternehmen aufbauen“, erklärt die Geschäftsfrau. „Aber ich kann nichts investieren, weil ich nicht weiß, was in einem Jahr sein wird.“ Tetyana hilft freiwillig im „Kostnix-Laden“ mit, einer Tauschbörse für Gebrauchtes. Günstige Lebensmittel kauft das Ehepaar im Sozialladen Solali. „Das ist ein wichtiger Treffpunkt für uns. Wir Ukrainer wünschen uns aber viel mehr Begegnung und Austausch mit den Einheimischen.“
„Fast alle ukrainischen Flüchtlinge finden rasch eine Arbeit“, erklärt Ihor. „Trotzdem fällt es ihnen schwer, den nötigen Lebensunterhalt zu verdienen, weil das Wohnen im Lienzer Talboden sehr teuer ist und die angebotenen Jobs nicht gut bezahlt sind.“ Einige arbeiten im Fast-Food-Restaurant, andere in Hotels. „Zwei Ärzte, die in Lienz keine ihrem Ausbildungsstand entsprechende Beschäftigung aufnehmen konnten, sind deshalb in die Ukraine zurückgekehrt“, erzählt Tetyana.
Vom Haus am Meer nach Sillian geflüchtet
In Sillian hat eine junge Familie Unterschlupf gefunden. „Wir waren zuvor in verschiedenen Regionen Tirols, es gefällt uns hier sehr gut, wir fühlen uns hier wohl“, berichtet Familienvater Volodymyr, der eine Stelle in einem Supermarkt angenommen hat. „Die Menschen in Osttirol sind sehr nett und freundlich. Sie versuchen mit ganzem Herzen dazu beizutragen, dass wir uns wie zu Hause fühlen.“ Ehefrau Alina ergänzt: „Was uns hier fehlt, sind Freunde, aber wir lernen fleißig die deutsche Sprache und glauben, dass wir eines Tages ein Teil dieser Gesellschaft werden können.“ Alinas Familie stammt aus Saporischschja, wo die junge Frau auch ihr Studium abgeschlossen hat und als Lehrerin für Malerei und Zeichnen beschäftigt war. Leon, der Sohn des Ehepaares, ist in Innsbruck zur Welt gekommen und hat vor wenigen Tagen in Sillian seinen ersten Geburtstag gefeiert.
In der Ukraine lebte das junge Paar bis zum Kriegsausbruch in der Küstenstadt Odessa, wo Volodymyr am Meeresufer ein Café besaß und einen Verleih für Wassersport betrieb. „Wir haben jeden Sommer dort verbracht“, erinnert sich Alina. „Wunderbare Sommersaison, Meer, Sonne und heißer Sand. Dort lernten wir uns kennen und beschlossen schließlich, eine Familie zu gründen.“ Dann war Krieg.