2002 wurde Kinderarzt Franz Wurst verurteilt. Erst 18 Jahre später hat das Land Kärnten offiziell Verantwortung übernommen, für Hunderte missbrauchte und misshandelte Kinder in Kärntner Institutionen. Warum gab es diese Geste der Verantwortung so spät?
ASTRID LIEBHAUSER: Ich bin die Falsche, um das beantworten. Früher, in den ersten Jahren nach dem Verfahren, dachte ich, die Verantwortlichen aus Politik und Fachwelt waren sich der Dimension nicht bewusst. Heute habe ich das diffuse Gefühl, dass man auch nach dem Prozess nicht so genau hinschauen wollte, weil man dann noch mehr sehen würde von dem, was man nicht sehen möchte.
Warum haben Sie so dafür gekämpft, dass die Ära Franz Wurst wissenschaftlich erforscht wird?
Ein Bub, der von Wurst immer wieder missbraucht wurde und dem im Landesjugendheim Görtschach von einem Erzieher fast alle Knochen im Gesicht gebrochen wurden, hat mir gesagt: Irgendwann habe er die Schmerzen nicht mehr gespürt. Aber er möchte, dass den Opfern endlich geglaubt wird. Er möchte, dass man sich entschuldigt. Da fühlte ich mich verpflichtet und beschloss: Die Bevölkerung soll wissen, was Kindern unter Wurst und in Görtschach alles passiert ist.
Die Studie liegt jetzt in Buchform vor. Gab es Widerstand?
Ja, schon. Wir hörten anfangs immer wieder, man solle das Thema eher ruhen lassen.
Im Buch steht, dass 22 Interviewanfragen abgelehnt wurden.Überproportional oft von ehemaligen Leitungskräften aus der Landesverwaltung, dem LKH und von Personen aus Wissenschaft und Politik. Warum?
Das Schweigen spricht für sich. Etliche werden wohl Angst haben, sich selbst und ihre Rolle in dieser Zeit zu hinterfragen.
Haben Sie mit Mitarbeitern von Franz Wurst über Vorfälle von damals gesprochen?
Es steht mir nicht zu, mit dem Finger auf diese Leute zu zeigen. Die wenigen, die damals etwas gesagt haben, wurden leise gemacht. Fest steht, dass sich damals nur wenige getraut haben, sich öffentlich gegen das System auszusprechen.
Und die vielen, die nichts gesagt haben?
Einige ehemalige Mitarbeiter sprechen heute von einem Berufstrauma und sind tief betroffen. Sie würden heute viel dafür geben, wenn sie früher etwas gesehen hätten. Durch das Buch wurde klar, wie sehr alles verfilzt war. Jeder Psychologe in Kärnten musste zu Ausbildungsbeginn ein Praktikum in der Heilpädagogischen Abteilung machen und beim Herrn Wurst Guten Tag sagen. Wurst war überall: in der Aus- und Fortbildung, im LKH, an der Uni, in der Jugendwohlfahrt, in der Schule, in der Privatordination, bei Gericht als Gutachter.
Er tauchte ja sogar auf Ferienlagern des Landes auf und missbrauchte dort Kinder ...
Ja. Und die Kinderbetreuer dachten, wie fleißig der Herr Primar doch ist, arbeitet sogar im Urlaub. Manche seiner Opfer hat er auch privat in den Urlaub mitgenommen, einen Buben hat er zu einem Empfang mitgenommen, andere zu Ausflügen. Da hat er den Wohltäter gespielt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Wurst noch in den Jahren nach seiner Pensionierung Zugang zur Heilpädagogischen Abteilung hatte. Wir haben viel recherchiert. Jemand muss ihn auch in den ersten Jahren nach seiner Pensionierung 1985 noch hineingelassen haben zu den Kindern.
Was sind die Lehren aus dem, was da ans Licht gekommen ist?
Noch mehr externe Kontrollen in den Einrichtungen, in denen Kinder sind, und in der Kinder- und Jugendhilfe. Mehr Hilfe für die Familien in herausfordernden Phasen und weniger Fremdunterbringung von Kindern. Jedes Kapitel in dem Buch zeigt, dass die Kinder nicht gehört wurden. Wir müssen Wege und Modelle schaffen, Kindern zuzuhören, sie ernstzunehmen, und verstehen zu lernen, was sie sagen wollen. Am schlimmsten wäre es, wenn auch die heutigen Jugendlichen in 20 Jahren sagen: Uns hat keiner gehört und geglaubt.