Wie viele Tage sind’s noch? Adventus, lateinisch: die Ankunft. Groß ist die Vorfreude. Wir Massen fiebern dem Ereignis mit täglich steigender Sehnsucht entgegen. Wir warten und zählen die Tage – nicht erst seit Anfang November, als die Weihnachtsbeleuchtung in Betrieb ging, sondern eigentlich schon seit dem Sommer, kurz bevor die Adventkalender und der Lebkuchen ins Supermarktregal geräumt wurden.
Und bald also ist es so weit, er kommt auf Erden hernieder: der Retter! Der Erlöser! Der Heilbringer: der Corona-Impfstoff. Möge seine Empfängnis möglichst unbefleckt, also ohne Nebenwirkungen sein! Gebenedeit seien die Menschenfreunde in den Pharmafirmen, die ihn selbstlos entwickelten. Allen voran Pfizer-Chef Albert Bourla. Genau an dem Tag, an dem die 90-Prozent-Wirksamkeit des Impfstoffes öffentlichkeitswirksam verkündet wurde und in Folge der Aktienkurs in die Höhe schoss, verkaufte Bourla 132.508 Stück aus seinem privaten Pfizer-Aktienpaket. Rein zufällig, wie er sagt. Wir glauben ihm das gerne, zumal wir wissen, dass Pharmakonzerne seit jeher zu den vornehmsten, glaubwürdigsten und humansten Geldmaschinen zählen, denen es bei all ihrem Tun ausschließlich um das Wohl der gesamten Menschheit geht und nicht etwa darum, möglichst schnell den vielen Zaster in Sicherheit zu bringen.

Risikogruppen

Ich will dieses Gute gerne unterstützen und stelle mich ganz vorne in die Reihe und sage: Ja, ich will! Impft mich bitte schnell, koste es, was es wolle, gleich nachdem alle Menschen im Gesundheitsbereich und alle Risikogruppen durchgeimpft wurden. Nehmt mich, ich stelle mich zur Verfügung, denn wie sonst soll man draufkommen, ob der Impfstoff wirklich was taugt oder ob er etwa doch Nebenwirkungen hat? In ein paar Monaten oder Jahren werden wir mehr wissen, und dann kann ich sagen: Ich war vorne dabei! Ich gehöre zur Impf-Avantgarde!
Doch halt, was ist das? Der Leiter des russischen Staatsfonds sagt, sein Impfstoff „Sputnik V“ habe eine Wirksamkeit von 92 Prozent! Oha, das sind ja um, äh … 2,2 Prozent mehr. Putin berichtet, seine Tochter habe sich damit impfen lassen und alles sei karaschó. Wir wollen ihm das gerne glauben, denn hätten wir einen Anlass, dem russischen Staat oder dem TRAUzeugen Putin zu misstrauen? Oder gar anzunehmen, dass es vielleicht nur darum geht, den Amis eins auszuwischen, wie der Name „Sputnik“ verraten könnte? Immerhin war der gleichnamige Satellit 1957 die größte Demütigung für die USA. Bestimmt war die Namensgebung nur ein Zufall, so wie der Verkauf von Bourlas Privataktien.
Aber wie auch immer, russischen Impfstoff könnte ich in der EU derzeit nur von Viktor Orbán beziehen, der ist der Einzige, der ihn haben will, alle anderen halten ihn offenbar für russisches Roulette. Hundertprozentig sicher kann man sich ja nie sein, aber im Zweifelsfall ist mir lieber, es bringt mich der Chrysler ums Eck als der Lada.

Glaubensfrage

Die Ankunft des Erlösers ist ja eine Glaubensfrage, und ich glaube auf jeden Fall, dass mit der Impfung alles gut werden wird. Die Seilbahnen werden wieder fahren, das ist das Wichtigste. Die Fremden können wieder verkehren, wie und wo sie wollen. Alle Läden werden wieder offen sein, und wir können endlich wieder shoppen, dass es quietscht. Ich kann es kaum noch erwarten. Adventus. Ich lasse alles Schlechte aus mir rausimpfen, auch die Angst und die Zweifel. Mit der Impfung kann mir nichts mehr passieren, ich kann unterwegs sein wie mit 16 Airbags auf der Autobahn: Vollgas! Bald nach der Impfung werde ich alle Leute abschmusen, die mir begegnen, völlig ohne Risiko. Man wird mich Bussibär nennen. Ich werde meine Maske demonstrativ unterm Kinn tragen, und wenn mich einer blöd anredet, zeige ich ihm meinen Impfpass. Ich werde mit Gleichgesinnten eine Impfparty veranstalten, die sich nicht gewaschen hat, mit lauthals Singen und Abtanzen und Aerosolen, wohin man schaut. Geimpft werde ich die Welt umarmen. Ich werde unsterblich sein. Göttlich! Wie oft muss ich noch schlafen?