Unter all den amerikanischen Weihnachtsliedern, die man seit Mitte November an jedem Ort zu jeder Zeit in jeder Lautstärke hört, sind mir die von Bing Crosby gesungenen immer noch die liebsten, weil sie nicht ganz so kitschig sind. Eines davon war mir bisher völlig unbekannt und ist mir besonders ins Ohr gegangen. Es ist vergleichsweise schlicht, nennt sich „The Littlest Angel“ und erzählt die im englischsprachigen Raum sehr berühmte gleichnamige Weihnachtsgeschichte von Charles Tazewell aus den 1940er-Jahren nach.
Die Geschichte wurde auch verfilmt, zu einem Cartoon verarbeitet und als Musical aufgeführt, und da sie etwas Anrührendes hat, will ich sie gerne in aller Schlichtheit teilen: Oben in der großen Himmelshalle erzählt man sich oft die Geschichte vom kleinsten aller Engel. Er war erst vier Jahre alt. Jeden Tag spielte er mit seiner kleinen Schachtel. Für die anderen hatte diese Schachtel gar keinen Wert.
Aber da waren all seine Schätze drin, die er von der Erde mitgebracht hatte: ein Schmetterling mit goldenen Flügeln, den er einst an einem strahlenden Sommertag in den Hügeln über der Stadt gefangen hatte. Ein Stück Holz vom hohlen Baum. Zwei weiße Steine vom schlammigen Flussufer, wo er mit seinen Freunden immer gespielt hatte, bis sie alle über und über braun waren wie die Biber. Und, ganz unten in der Schachtel, das abgewetzte, zerbissene Halsband seines geliebten, treuen Mischlingshundes.
Als die Engel hörten, dass die Geburt des Jesuskindes in Bethlehem bevorstand, brachten sie dem Gottvater prächtige Geschenke – eines himmlischer als das andere. Scheu stellte der kleinste aller Engel seine kleine, schäbige Schachtel zu den feinen, schön verpackten Schätzen dazu. Doch dann überfiel ihn eine große Traurigkeit, und er saß da und weinte, weil seine Gabe gar so dürftig war. Nur ein vertrockneter Schmetterling. Ein Stück Holz. Zwei Kieselsteine vom Flussufer. Und das abgewetzte Halsband seines Hundes.
Sorgfältig besah sich der Herr die Geschenke. Doch aus all den Kostbarkeiten wählte er genau die kleinste Gabe aus: jene Schachtel, die gesegnet war mit der ganzen Liebe des kleinsten aller Engel. Und noch in dieser Nacht begann diese besondere Gabe zu leuchten in der großen Himmelshalle.
Kannst du den Stern da oben strahlen sehen? Dann weißt du auch, wer der stolzeste Engel von allen ist: Es ist der kleinste Engel von allen. Der mit dem Schmetterling mit den goldenen Flügeln. Dem Stück Holz vom hohlen Baum. Den zwei weißen Steinen vom Flussufer. Und dem alten Halsband seines braven Hundes.
Christian Hölbling