Tausende Sonnenhungrige pilgern derzeit wieder nach Grado und durchqueren dabei Aquileia – die gewaltige Basilika, die so gar nicht in den beschaulichen 3000-Seelen-Ort zu passen scheint, lassen sie meist links liegen. Über die 1700-jährige Geschichte des Bauwerks hat der bekannte deutsche Kunsthistoriker Christoph Ulmer nun ein Monumentalwerk verfasst – Schicht für Schicht beleuchtet er jeden Teil des Doms und räumt mit so manchen falschen Mythen auf.
"Die früheste Kirchenanlage lässt sich auf etwa 300 datieren", sagt Ulmer. Eine Zeit, als Aquileia rund 100.000 Einwohner hatte, die viertgrößte Stadt Italiens war und die achtgrößte des Römischen Reichs. Eine multikulturelle Handelsmetropole mit einem großen Anteil an Bewohnern aus Syrien, Ägypten, Palästina, mit dem nördlichsten Hafen des Mittelmeeres. "Die Kirche wurde mit bescheidenen Mitteln der Gläubigen errichtet", sagt Ulmer.
Klare Absage an diverse Deutungen
Erst bei Ausgrabungen 1908 kamen die Mosaike ans Tageslicht, die, überlagert von Bodenschichten exzellent konserviert wurden und zu den besterhaltenen der Welt zählen. Was die Deutung des Bildprogramms betrifft, ist Ulmer pragmatisch. Wissenschaftlern, die auch heute noch an der Theorie festhalten, dass hier einst der kaiserliche Palast Konstantins stand und Porträts als den Kaiser und seine Frau deuten, erteilt er ebenso eine klare Absage, "völliger Unsinn", wie jenen, die in einer großen Fischerszene den heiligen Petrus als Menschenfischer erkennen wollen – "hier sind Eroten dargestellt, die zu Bacchus gehören und Liebespfeile verschießen".
Fakt sei, dass über römischen Häusern, die, wie es der Mode der Zeit entsprach, mit Mosaikböden ausgestattet waren, ein Kirchenkomplex entstand. In der Folge wurde das übliche Bildprogramm mit einem christlichen Sinn unterlegt, einige Teile fügte man später ein. "Jahreszeitlicher Wandel und Fruchtbarkeit als Folge des Friedensreichs kaiserlicher römischer Politik kann nun als christliches Friedensreich gelesen werden. Der gute Hirte wird biblisch gedeutet, die Natur zur Darstellung des Paradieses."
Der erste Bau war wohl künstlerisch nicht besonders bedeutend, aber doppelt so groß wie die heutige Anlage. Der Kunsthistoriker geht von mindestens zehn, möglicherweise 30 Prozent Christen aus. Und dann verschwand der Dom plötzlich aus allen Dokumenten – "und niemand weiß warum. Ob Attila Aquileia tatsächlich niedergebrannt hatte, wissen wir nicht, weil bei Ausgrabungen nach dem Ersten Weltkrieg nationalistisch gesinnte italienische Archäologen alles wegwarfen, was nicht römisch war". Bekannt ist, dass der Erzbischof vor Attila nach Grado floh. "Dann entsteht die Legende vom heiligen Markus – demnach soll der hl. Petrus höchstpersönlich Markus nach Aquileia entsandt haben", den zog es aber bekanntermaßen nach Alexandria und er überließ den Job seinem Schüler Hermagoras, dem heutigen Stadtpatron. Und da Petrus Hermagoras der Legende nach als Bischof eingesetzt haben soll, verstand sich Aquileia später Rom und dem Papst verpflichtet.
Besterhaltenes Beispiel für Frühromanik
Die heutige Basilika sei um das Jahr 1000 auf den Fundamenten des antiken Doms entstanden. "Aquileia war einer der ersten Bauten der Frühromanik in Italien, das besterhaltene Beispiel für diesen Kunststil mit ungewöhnlich gut erhaltenen Fresken von einzigartiger Bedeutung."
Der Patriarch von Aquileia, damals einer der herausragenden Kirchenfürsten Italiens, erbaute hier sowohl einen Kaiserdom, geweiht zum Todestag Heinrichs II., der sein Förderer gewesen war, als auch eine Apostelkirche in Anlehnung an den konstantinischen Petersdom und in heftiger Rivalität gegen das aufsteigende Venedig. Die Venezianer gingen so weit, dass sie ihren ersten, eben erst fertiggestellten Markusdom durch einen neuen, moderneren ersetzten, um mithalten zu können. Und sie kopierten auch den Kampanile.
Mit dem Untergang der Staufer und dem Ende einer kaiserlichen Italienpolitik verlor das Patriarchat rasch an Bedeutung, die Stadt Aquileia versank, von Malaria verseucht, im Vergessen, der Patriarch residierte nördlich im gesünderen Udine. Dennoch wurde die Basilika von einem Domkapitel erhalten und teilweise erneuert und steht so bis heute.
In der Kunstgeschichte spielt der Dom, bis auf die Mosaike, keine Rolle. Für Ulmer "ein Rätsel". Und schuld daran ist vielleicht Goethes Vater. "Als Johann Caspar Goethe auf seiner Italienreise über Wien nach Venedig wollte, musste er in Palmanova in Quarantäne und riet dann in seinem Reisebericht, um den Friaul einen großen Bogen zu machen. Sein Sohn, der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe, fuhr über den Brenner."
Lisa Kassin