Die Apotheke in der Via Roma ist für viele Österreicherinnen und Österreicher seit Jahrzehnten ein Fixpunkt bei einem Tarvis-Aufenthalt. Es gibt eine gut sortierte Kosmetikabteilung und nach wie vor sind einige Medikamente im Nachbarland günstiger. Die Renner? „Nach wie vor Viagra und die Pille“, sagt Carlo Spaliviero, der mit seinem Bruder Paolo die Farmacia in der dritten Generation führt. Die wahre Leidenschaft des Pharmazeuten aber ist die Fotografie. Mit 13 Jahren bekam er seine erste Kamera. Als er 15 war, drückte ihm sein Vater Francesco, selbst ein begeisterter Fotograf, eine Nikon F in die Hand und schickte ihn für fünf Wochen zu einem Freund nach Sambia. „Als Lebensschule“, erzählt Carlo. In diesem Alter startete er auch seine Karriere als Pressefotograf beim Messaggero Veneto und diversen Mailänder Fotoagenturen. „Manchmal war ich schneller am Tatort als die Polizei“, erzählt er verschmitzt. Schon damals hielt er sich an den Leitsatz des Jahrhundertfotografen Robert Capa: „Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran“.
Als Sportfotograf für die italienische Nachrichtenagentur ANSA kam ihm auch Lionel Messie vor die Linse. „Der FC Barcelona spielte gegen die Udinese und ich hatte den Auftrag, in der zweiten Halbzeit einen phänomenalen 17-jährigen Newcomer zu fotografieren.“
Sein Traumberuf – „war natürlich Fotograf.“ Daraus wurde aber zunächst nichts. Zuerst solle er sein Studium abschließen, dann könne er machen, was er wolle, meinte sein Vater. Aber immerhin absolvierte er neben der Pharmazieausbildung an der Universität Triest, Kurse bei internationalen Größen der Fotografie an der Universität Venedig. Zunächst auf die Schwarz-Weiß-Fotografie fokussiert, schuf Spaliviero während seines Zivildiensts in Triests psychiatrischem Krankenhaus eine berührende Sozialreportage. „Es waren die Jahre von Franco Basaglias Psychiatriereform in Italien“, erinnert er sich: „Die legge 180, das sogenannte Basaglia-Gesetz, sah einen schrittweisen Ersatz der psychiatrischen Krankenhäuser durch ambulante Dienste und akute stationäre Versorgung vor.“ Basaglia gilt als Lichtgestalt der modernen Psychiatrie und seine Reformen griffen auch nach seinem frühen Tod 1980 auf andere Länder Europas über. Die einfühlsamen Bilder von psychisch Kranken des jungen Tarvisers beeindruckten Basaglias Nachfolger und die Triestiner Ärzte schickten ihn zu einer Reportage auf die griechische Insel Leros. Seit den 1950er-Jahren hatte die griechische Regierung die wehrlosesten psychisch Kranken des ganzen Landes dorthin verschifft.
„Über 2700 kranke Menschen ohne adäquate Betreuung waren zu meiner Zeit dort untergebracht, es gab Abteilungen, wo die Patienten nicht einmal Kleidung hatten. Betreut wurden sie von Inselbewohnern, die nicht dafür ausgebildet waren und die Menschen großteils sich selbst überließen“, erzählt Spaliviero. Die italienischen Verfechter von Basaglias „Demokratischer Psychiatrie“ versuchten, ein internationales Hilfsprogramm auf die Beine zu stellen. „Doch die griechischen Behörden legten sich quer und auch mit den Inselbewohnern war es nicht so einfach. Sie fürchteten um eine gute Einnahmequelle. Wir waren nicht gern gesehen.“
Zurück in Italien, bot Carlo seine Bilder dem Corriere della Sera an, einer der größten Tageszeitungen des Landes. „Fantastisches Material, aber man könne so etwas nicht publizieren, die Zeit sei noch nicht reif, war die Meinung des Direktors“, erinnert sich Spaliviero: „Für den italienischen Fotografen, der nach mir nach Leros kam, waren seine Bilder die Eintrittskarte zu Magnum, der wichtigsten Fotoagentur der Welt – aber ich bin eben ein Apotheker.“
Es folgten Jahre der Straßenfotografie mit Bildern im öffentlichen Raum – mit Blicken auf die Straßen Bangladeschs, in die Wüsten Mauretaniens, in Geschäfte oder Cafés, auf Passantengruppen oder einzelne Menschen, Milieustudien, oft Momentaufnahmen, die in der Folge zu Bildessays verarbeitet werden, die Spaliviero dann in spannenden Ausstellungen zeigt.
Neben der Studiofotografie mit dem Schwerpunkt Frauenbildnisse hält der Fotokünstler immer wieder gern seine Heimat künstlerisch fest. In Zusammenarbeit mit dem Journalisten Umberto Sarcinelli entstand der wunderbare Bildband „Tarvisio – storia di foreste, rocce, acque e popoli“ – Tarvis, seine Wälder, Berge, Gewässer und Menschen. Sohn Elia, der die Foto-Passion geerbt und sich auf die Drohnen-Fotografie spezialisiert hat, gab dabei sein Debüt.
2016 gewann Spaliviero für sein Werk den höchsten Preis, den die Region Friaul Julisch Venetien punkto Fotografie zu vergeben hat. Pläne für die Zukunft hat er viele, „die Welt ist groß und die Reise geht weiter.“ Ein Herzensprojekt, dessen Verwirklichung die Coronapandemie und die politische Lage in den vergangenen zwei Jahren einen Strich durch die Rechnung machte, ist eine Reise nach Afghanistan. „Sobald es irgendwie geht, fliege ich hin.“
Lisa Kassin