Ein Ort der Ausgrenzung und Isolierung. 500 Menschen, die man aus der Gesellschaft verbannt und ihrer Rechte beraubt hatte, eingeschlossen hinter Mauern, Gittern und Zäunen. Sie waren ans Bett gefesselt und wurden zwangsmediziniert, mit Elektroschocks und Eisbädern behandelt. „Tagtägliche Gewalt. Als ich in der Nervenheilanstalt von Gorizia zu arbeiten begann, verstand ich die Welt nicht mehr“, beschrieb Franco Basaglia seinen Einstand als Direktor in der psychiatrischen Anstalt von Görz im Jahr 1961. Basaglia öffnete nicht nur die Tore in Görz, in Triest schloss man auf sein Betreiben das erste „manicomio“ Italiens und 1978 wurde das „Gesetz 180“ beschlossen, das die schrittweise Schließung aller psychiatrischen Anstalten vorsah. Anlässlich seines 100. Geburtstags gedenkt man in ganz Italien mit Veranstaltungen des wegweisenden Reformators.
Erboste Politik
In Görz begann Basaglia mit dem Aufbau einer therapeutischen Gemeinschaft. Niemand durfte mehr gefesselt, geschlagen oder gefoltert werden. Zäune und Mauern wurden niedergerissen, Hierarchien abgeflacht. Er holte sich gleichgesinnte, junge Ärzte ins Team und legte großen Wert auf die fachliche und vor allem die humanistische Aus- und Weiterbildung der Pflegekräfte. Zahlreiche Kranke wurden entlassen oder bekamen einen Gaststatus. Basaglia: „Ich begriff, dass es sich um politische Ghettos für eine Randgruppe handelte, die nur die Schuld hat, krank zu sein, verrückt, aber eben arm und verrückt. Denn die reichen Verrückten kommen in Privatkliniken, sie werden nicht ganz aus der Gesellschaft ausgestoßen.“ Sein Buch „Die negierte Institution oder die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen“ fand nicht nur bei der 68-er Bewegung reißenden Absatz, Basaglias radikale Ideen erregten das psychiatrische Establishment, das an seinen Pfründen mehr interessiert war als an kranken Menschen, und erboste die Görzer Politik.
1972 übernahm Basaglia mit der gefürchteten Zwangspsychiatrie „San Giovanni“ in Triest eine riesige Anstalt mit 1200 Kranken. Doch das politische Klima war günstiger als im damals von den Neofaschisten geprägten Görz und Michele Zanetti, der christdemokratische Vorsitzende der Provinzregierung, unterstützte ihn. Nun ging es darum dezentrale Strukturen zu schaffen, die eine geschlossene Anstalt überflüssig machten und Menschen in psychischen Krisen wohnortnahe Versorgung bieten konnten. Mit dem Gesetz 180 beseitigte man die Zwangspsychiatrien, Allgemeinkrankenhäuser dürfen nur noch 15 Betten für die geschlossene Psychiatrie aufweisen. Parallel wurden Gesundheitszentren geschaffen, die für Krisenfälle rund um die Uhr bereitstehen. Nur in Ausnahmefällen und unter Beachtung zahlreicher formeller Vorschriften darf es für maximal 14 Tage zu Zwangseinweisungen kommen, die bei Bedarf verlängert werden können.
Mit seiner Frau und engsten Mitarbeiterin Franca Ongaro begründete Basaglia die Vereinigung „Demokratische Psychiatrie“. Mit den Zielen: Inklusion der psychisch Kranken in die Gesellschaft und Abschaffung der Ausgrenzung. In- und außerhalb Italiens wird Basaglia immer wieder als Vertreter der Antipsychiatrie gesehen. Dazu sagte er in einem Interview: „Ich habe keine Ahnung, was Antipsychiatrie ist. Wir haben uns nie als Antipsychiater verstanden, sondern wollten innerhalb der öffentlichen Institutionen den Leidenden eine Alternative schaffen zu einem von Gewalt und Unterdrückung geprägten Leben in den Zwangspsychiatrien.“ Im Frühling 1980 wird bei Basaglia ein Gehirntumor diagnostiziert, am 29. August des Jahres stirbt er in seiner Heimatstadt Venedig.
Seine Ideen hinterließen weltweit ihre Spuren. Basaglia hatte auch einen großen Einfluss auf die Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung in Kärnten, „die von meinem Vorgänger Thomas Platz konsequent umgesetzt wurde. Es kam zu einer Deinstitutionalisierung und Bettenreduktion sowie einem kontinuierlichen Aufbau extrastationärer Strukturen. Eine bestimmte Gruppe von Menschen wird aber immer eine stationäre Betreuung brauchen und dafür wurde ein sehr modernes Haus geschaffen“, sagt Herwig Oberlerchner, bis zum Vorjahr Vorstand der Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Klinikum Klagenfurt.
Lisa Kassin