Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und ein bis zu 75 Zentimeter großer, schwarzer Vogel mit kahlem, hochrotem Kopf, einer Flügelspannweite von fast eineinhalb Metern, zerrupften Nackenfedern und einem langen gebogenen Schnabel blickt Sie durch ihr Fenster an. Genau das ist Boris Arko aus Postojna in Slowenien passiert: "Über eine halbe Stunde flanierte er vor dem Moskitonetz auf meiner Fensterbank. Wir haben uns unterhalten, er sagt, er wäre ein Waldrapp", postete Arko mit einem Smiley und teilte Fotos und Videos seiner einzigartigen Begegnung auf Facebook.
Der gefiederte Besucher hat Arko nicht angelogen, es handelte sich tatsächlich um einen in Mitteleuropa seit dem 17. Jahrhundert ausgerotteten Zugvogel: "Der Waldrapp dürfte ein sehr wohlschmeckendes und leicht zu fangendes Tier gewesen sein. Er wurde so massiv bejagt, dass kurz vor seiner Ausrottung in den Alpen nur mehr der Salzburger Erzbischof ein Jagdrecht darauf hatte", erklärt Emanuel Liechtenstein, Obmann des Fördervereins Waldrappteam im Tierpark Rosegg.
Gebürtiger Kärntner
Das Facebook-Posting wurde mehrfach geteilt und kommentiert. Aufmerksamen Beobachtern fiel dabei der Markierungsring mit deutschsprachiger Beschriftung auf. Es wurde vermutet, der Vogel sei aus einem Zoo in Deutschland oder Österreich ausgeflogen. "Tatsächlich ist er gebürtiger Kärntner, er schlüpfte vor fünf Jahren im Tierpark Rosegg und heißt Gemini", klärt Liechtenstein auf und berichtet, dass Gemini heute in Italien lebe, sein Überwinterungsgebiet sei die Toskana und im Sommer verweile er hauptsächlich in der Gegend um Udine: "Er macht aber auch immer wieder Ausflüge nach Slowenien und sogar nach Kroatien, ähnlich wie sein zweieinhalb Jahre jüngerer Artgenosse Louis."
150 Tiere aus Rosegg ausgewildert
Gemini ist Teil des Waldrapp-Artenschutzprojektes im Tierpark Rosegg. 150 Tiere sind bereits in die freie Natur migriert, sagt Liechtenstein: "Ein Drittel ist bei uns im Brutgebiet geblieben, ein weiteres Drittel ist hauptsächlich in Oberitalien bei Udine und eines in Laguna di Orbetello in der Toskana. Die meisten sind mit einem Chip versehen und wir können ihre Routen verfolgen. Gemini nicht, deshalb freuen wir uns besonders, wenn er irgendwo gesichtet und dokumentiert wird."
Man ist stolz, mit dem Projekt den Waldrapp wieder zurück nach Europa gebracht zu haben. "Es gibt in Marokko 5 bis 600 wild lebende Waldrappe, seit den 1950er-Jahren auch wieder eine große Population an Zootieren. Die jetzt in Europa frei lebenden Tiere stammen aber zu 99 Prozent aus unserem Projekt in Rosegg", erklärt Liechtenstein. Dahinter stecke viel Arbeit und Einsatz mit Handaufzucht und Prägung durch die "Ziehmütter", die die Vögel auch auf ihrer ersten Zugroute begleiten: "Die Tiere haben es verlernt, also muss es ihnen zumindest einmal gezeigt werden", erklärt der Obmann des Vereins.