Ob er sie sieht oder erkennt, ob er sie spürt, wenn sie ihn berührt, ob er ihre Liebe fühlt, ob er Schmerzen fühlt – all das weiß Gloria* nicht, wenn sie ihren Mann in der Betreuungseinrichtung besucht. Wenn sie ihm noch so nahe ist, so ist er doch so fern. Seine offenen Augen blicken ins Leere, kein Wort kommt über seine Lippen. Der Druck ihrer Hand bleibt unerwidert. Auf eine körperliche Reaktion des Menschen, den sie liebt, wartet Gloria seit vielen Monaten umsonst. Daniel* kann sich nicht rühren, wird künstlich ernährt, kann aber selbstständig atmen. Monate lang hat die Familie mit aller Kraft gehofft und gebetet, dass sich Daniels Zustand bessert, leider vergeblich. "Laut Meinung der Ärzte wird er lebenslang ein Pflegefall bleiben", sagt Gloria unter Tränen.
Über den Tag, der ihr Leben veränderte, kann sie kaum sprechen. Gut gelaunt verließ ihr Mann das Haus, um zur Arbeitsstätte zu fahren. Er war dort sehr beliebt. "Er hatte für alle ein offenes Ohr", erzählt Gloria, die es immer noch nicht fassen kann, dass sie mit ihrem Mann seit jenem Tag nicht mehr gesprochen hat, er sie nie mehr umarmt hat. Denn an jenem Tag hatte er einen Unfall, dessen Ursachen bis heute nicht geklärt sind.
Durch viele Operationen konnten die Ärzte seinen Körper wieder zusammenflicken, doch schreckliche Folgen blieben. Jede Stunde, auch nachts, muss bei Daniel durch ein Tracheostoma im Hals der Speichel abgesaugt werden.
Gloria besucht ihren Mann so oft wie möglich in der Woche. "Das Schlimme ist, dass ich nicht weiß, ob er mich hört, ob er mich spürt, dass er für mich nicht greifbar ist", schildert sie ihre Verzweiflung. "Es ist eine Qual, zuzuschauen." Nie habe Daniel gewollt, ein Pflegefall zu werden. Er habe viel gelesen, sei technisch sehr versiert gewesen, habe im Haus gern Hand angelegt und viel selber gemacht, erzählt Gloria und zeigt auf Daniels Lieblingstisch, an dem sie nun alleine sitzen muss.
Vor einigen Jahren erst ist die Familie eingezogen, das Paar wollten sich jetzt nach der Zeit des Sparens und der Kindererziehung endlich mehr Zeit nehmen, um zu reisen und zu genießen. "Wir haben uns gut verstanden, wir waren ein Team." Glorias Taschentuch ist schon ganz nass. Man möchte am liebsten mitweinen, wenn man die Fotos des strahlenden Paares betrachtet. "Warum wir?", fragt sich Gloria immer wieder. "Wir haben doch niemandem etwas getan."
Zum seelischen Schmerz kommen nun auch gewaltige finanzielle Sorgen. Daniel hatte gut verdient, jetzt bekommt er eine Berufsunfähigkeitspension, die bereits große Abschläge verzeichnet. Gloria bekommt davon nur 20 Prozent, der Rest geht ebenso wie das Pflegegeld an die Pflegeeinrichtung. Zu ihrem Glück hat sie einen Job, der allerdings nicht so gut dotiert ist.
Das reicht bei Weitem nicht aus, um alle Alltagskosten, Reparaturen, das Auto, das sie für den Weg zur Arbeit braucht und den noch offenen Kredit zu decken. Alleine für Heizmaterial wären jetzt 3000 Euro nötig, viel mehr als letztes Jahr. "Daniel hat immer für bedürftige Menschen gespendet", erzählt Gloria. Dass sie selbst einmal dazu gehören könnte, hätte sie nie gedacht. "Aber wir müssen weiterleben. Aufgeben ist auch keine Option."
* Name und persönliche Daten von der Redaktion geändert.
Elke Fertschey