"Es ist eine Genugtuung, auch wenn sie für meine Mandantin leider zu spät kommt." Rechtsanwalt Alexander Todor-Kostic hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Sieg errungen, doch der hat einen bitteren Beigeschmack: Seine Mandantin ist im Vorjahr, noch vor dem Entscheid, gestorben. Nach kurzer, schwerer Krankheit, in einem Gefängnis in Niederösterreich, verurteilt wegen versuchten Mordes.
Begonnen hat die Tragödie in der Nacht auf 3. Jänner 2018 in Moosburg: Die damals 77 Jahre alte Frau hat auf ihren schlafenden Ehemann mit einem Messer eingestochen. Der 83-Jährige schlief weiter, trotz der Verletzungen im Hals- und Brustbereich, die nicht lebensgefährlich gewesen sind. Eine Nichte des Paares entdeckte am Morgen die Tat und rief die Polizei.
52 Jahre verheiratet
Die Moosburgerin wurde festgenommen und wegen Mordversuchs angeklagt. Im Prozess kamen Details des Dramas ans Licht: Die unbescholtene Angeklagte wurde als Kind Opfer schwerer Gewalttaten. Mit ihrem Mann war sie seit 52 Jahren verheiratet. "Es gab weder Streit noch Eifersucht noch Habgier. Dieser Bruch passt nicht", meinte sogar die Vertreterin der Anklage, Staatsanwältin Sandra Agnoli. Dieser "Bruch" war der Messerangriff auf ihren Mann, den die Frau vor Gericht gestanden hat. Als Motiv gab sie Zukunftsängste an, sie fürchtete dement und hilflos zu werden. Sie wollte ihren Mann und dann sich töten. Der 83-Jährige hatte ihr die Tat verziehen: "Ich bin meiner Frau nicht böse, ich möchte sie gerne wiedersehen", sagte er vor Gericht.
Zwei Experten, zwei Ergebnisse
Einige Zeit sah es danach aus: Der erste Gutachter fand, dass die Frau an einer wahnhaften Störung litt und zur Tatzeit nicht zurechnungsfähig war. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Doch eine Geschworene und auch der Richtersenat forderten ein zweites Gutachten, weil das erste mangelhaft gewesen sein solle, so Todor-Kostic. Der neue Sachverständige stellte dieselbe Erkrankung fest, kam aber zum Schluss, die 77-Jährige sei bei der Attacke zurechnungsfähig gewesen.
Obergutachter abgelehnt
Staatsanwältin Agnoli und Verteidiger Todor-Kostic beantragten die Erstellung eines Obergutachtens, damit ein zweifelsfreies Urteil gefällt werden könne. Nach ihrer Meinung war keines der Gutachten mangelhaft, sondern "nur" der Schluss daraus widersprüchlich. Doch ihr Antrag wurde von den Richtern abgelehnt, weil die Mängel im zweiten Gutachten nicht nachgewiesen wurden. "Das wurden sie aber im ersten Gutachten auch nicht", sagt Todor-Kostic.
Die Angeklagte wurde im Dezember 2018 zu zwölf Jahren unbedingter Haft verurteilt. Staatsanwaltschaft und Verteidiger legten Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde ein. Sie scheiterten, der Oberste Gerichtshof wies die Beschwerden ab.
"Ist mir ein Rätsel"
Die Frau musste mit 78 Jahren ihre Haftstrafe antreten. In einem Frauengefängnis in Niederösterreich, mehr als 200 Kilometer entfernt von ihrer Familie. Todor-Kostic ist nach wie vor entsetzt: "Bei einer Einweisung hätte meine Mandantin die Chance gehabt, im Rahmen eines gelockerten Vollzuges in der Nähe ihres Heimatortes zu leben, mit ihrer Familie und ihrem Ehemann Kontakt zu halten." Es hätte die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung bestanden, da von der Frau nach allen Prognosen keine direkte Gefährlichkeit ausgegangen sei, weil es sich um eine Beziehungstat handelte, so der Rechtsanwalt: "Warum ihr diese Chance einer vollständigen Klärung der Frage der Zurechnungsfähigkeit von den Berufsrichtern genommen wurde, ist mir heute noch ein Rätsel."
Wunsch des Witwers
Um dieses Rätsel zumindest teilweise zu lösen, wandte sich Todor-Kostic im Dezember 2019 "im ausdrücklichen Auftrag des Ehemannes der Verstorbenen" an den EGMR. Seit wenigen Tagen liegt dessen Entscheidung vor und die ist klar: LG Klagenfurt und OGH haben den Artikel 6, Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt – das Recht auf ein faires Verfahren. Und weil der geistige Zustand der Frau entscheidend für den Ausgang des Verfahrens war, hätte ein drittes Gutachten eingeholt werden müssen. Besonders, weil die Schlussfolgerungen der beiden Gutachten so widersprüchlich waren.
"Auch wenn es kein Trost ist, ist die Verstorbene zumindest posthum rehabilitiert und darf nicht mehr als wegen Mordversuchs Verurteilte bezeichnet werden", sagt Todor-Kostic.