Plötzlich stand die Welt still. „Unser Kind hatte einen schlimmen Unfall und lag im Wachkoma. Wir wussten nicht, ob unser Mädchen je wieder wach wird“, sagt Birgit de Roja.
Ihre Tochter Bernadette wurde im Alter von zwölf Jahren von einem Lieferwagen niedergefahren und schwerstens verletzt. Als sie nach Monaten im Wachkoma wieder zu sich kam, konnte sie nicht mehr sprechen, nicht selbstständig atmen, nicht schlucken und sich nicht mehr bewegen. De Roja hatte schwere Hirnverletzungen, saß im Rollstuhl, sogar ihr Kopf musste gestützt werden. „Meinen Eltern wurde mitgeteilt, dass ich wohl für den Rest meines Lebens nur liegen kann und wohl nie einen normalen Schulabschluss machen werde“, erzählt Bernadette de Roja.
15 Jahre ist alles her. Und jetzt? Hat sie ihr Studium abgeschlossen und hält stolz ihr Bachelor-Zeugnis in der Hand. „Ich bin überglücklich“, sagt die 27-Jährige. Am Freitag hatte die Kärntnerin ihre Sponsion an der Universität in Graz. Sie hat es geschafft: Von der Prognose – „sie wird nie einen Schulabschluss schaffen“ – bis zur Akademikerin. Der Weg dorthin war voller Rückschläge, Operationen, Tränen und Therapien, aber auch voll unbändiger Willensstärke. „Als ich nach dem Wachkoma wieder zu mir gekommen bin, hatte ich drei Ziele: Aus dem Rollstuhl kommen, Matura machen und wieder modeln.“ Das war nämlich immer ihr großer Traum. Schon als Volksschülerin wollte sie Tanzlehrerin werden und nebenbei modeln.
Bernadette de Roja und ihre Eltern im Video
Doch nach dem Unfall schien das unerreichbar. „Ich konnte ja nicht einmal meinen Kopf selbstständig heben.“ Ihre Mutter gab ihr mit einer Pipette tröpfchenweise Limonade, damit sie wieder schlucken lernt. Ihre Hirnverletzungen waren so massiv, dass sie viele Wörter vergessen hatte und erst sprechen üben musste. Insgesamt zwei Jahre verbrachte de Roja in einer Spezialklinik in Bayern. „In der Zeit sind viele Freundschaften zerbrochen“, erzählt sie. Damals habe ihr das weh getan. Heute, als erwachsene Frau, sagt sie: „Es passt alles. Was mir passiert ist, war kein Fehler. Der Unfall gehört zu meinem Leben und ich habe dadurch viele andere tolle Menschen kennengelernt.“
Den größten Kampf, musste sie ohnehin mit sich selbst austragen. Sie, die einstige Vorzugsschülerin, musste wieder lesen und schreiben lernen. Sie, die begeisterte Balletttänzerin, konnte plötzlich nicht mehr gehen. „Meinen neuen Körper anzunehmen, war der schwierigste Prozess“, gesteht sie. „Aber heute bin ich die alte, neue Berni.“
Kurze Strecken kann sie sogar wieder selbstständig gehen. „Für längere Wege nehme ich den Rollstuhl, weil meine rechte Körperhälfte stark eingeschränkt und spastisch ist.“ Ihre Hirnverletzungen wurden nach und nach besser. Allen Prognosen zum Trotz machte de Roja einen Hauptschulabschluss und im Jahr 2018 die Matura. „Mein Bruder Chrisi war mein bester Therapeut, meine Eltern meine größten Stützen“, sagt sie immer. „ Ohne meine Familie wäre das alles nicht gegangen.“
Mit jeder geschafften Prüfung und jedem erreichten Ziel, stieg ihr Selbstbewusstsein, ihre Konzentrationsfähigkeit und ihre Unabhängigkeit. Deshalb zog sie nach der Matura von ihrer Heimatstadt Villach nach Graz. Zuerst absolvierte sie eine Ausbildung zur akademischen Peerberaterin an der Fachhochschule Joanneum. Dann begann sie Erziehungs- und Bildungswissenschaften zu studieren. „Zur Uni hat mich immer eine Assistentin begleitet, die für mich mitgeschrieben hat, weil meine Hand nicht so schnell ist. Bei den Prüfungen war ich alleine, aber ich bekam aufgrund meiner Beeinträchtigung mehr Zeit zum Schreiben.“ Sonst unterschied sich ihr Studentinnenalltag nicht viel von dem der anderen. „Nun mache ich vielleicht noch den Master“, sagt sie. Ich wohne in einem Studentenheim und liebe mein Leben hier. Wenn ich Hilfe brauche, habe ich Freunde, Familie oder Assistenz, die da sind. Alles ist super“, meint sie.
Auch ihren Traum vom Modeln und Tanzen hat de Roja nie aufgegeben. Als erste Kandidatin mit Behinderung machte sie bei der Miss Kärnten Wahl mit. „Im Vorjahr tanzte ich als erste Debütantin mit Körperbeeinträchtigung am Opernball im Eröffnungskomitee.“ Und in einer Bipa-Werbung war sie als Model im Rollstuhl auf allen großen TV-Sendern zu sehen und lachte von riesigen Plakatwänden. „Ich bin ein Model der Diversität“, sagt sie. Ihr nächstes Ziel ist der Führerschein – „und ein rosarotes Auto“. Vor allem will sie aber beruflich ihre Erfahrungen einbringen. „Ich möchte mich für Kinder mit Behinderung im schulischen Bereich einsetzen. Da gehört noch viel getan.“ Und ihre eigene Geschichte zeigt: Da ist viel möglich.