Grado ist in einer Sinnkrise, und daran sind die Schulen schuld. Denn die Grund- und Mittelschulen werden mit jenen des Festlandsorts Staranzano zusammengelegt, obwohl eine Kampagne in Grado 1620 Unterschriften gegen diese Entscheidung gesammelt hat, eine stattliche Zahl für einen Ort mit 7600 Einwohnern; das wäre so, als würden mehr als zwei Millionen Österreicher eine Petition unterschreiben.
Wo ist das Problem? Die komplette Schulverwaltung soll nach Staranzano ziehen, nur die Schulräume bleiben in Grado bestehen, und die Insel, fürchtet man, muss erneut ein Stück Bedeutung ans Festland abgeben. „Bye-bye, identità“, kommentierte jemand im Netz.
Keine Liebesbeziehung
Grado und die „terraferma“, das ist nun mal keine Liebesbeziehung und war es auch nie. Grado ist stolz auf sein Inseldasein und fühlt sich, wenn überhaupt, eher Venedig verbunden als dem Friaul. Die Gradeser pflegen ihre eigene Kultur und ihren eigenen Dialekt, der mit der friulanischen Sprache überhaupt nichts zu tun hat (und tatsächlich dem Venezianischen ähnelt) – kurzum: Ein Gradeser würde sich niemals als Friulaner bezeichnen.
Wie so oft in Italien sieht man das sehr schön beim Fußball, denn nur ganz wenige Gradeser halten zu dem Fußballverein Udinese Calcio, dabei ist der doch der einzige weit und breit, der seit Jahren in der Serie A spielt und es sogar drei Mal in die Champions League schaffte. Und wenn der Ortsverein Gradese Calcio (der in diesem Sommer kurz vor der Auflösung stand und glücklicherweise im letzten Augenblick gerettet wurde) gegen Aquileia antritt, dann herrscht Derbystimmung.
Mächtig sauer
Staranzano also. Ein Ort, der auch noch weniger Einwohner hat als Grado. Was hat sich die Region bloß dabei gedacht? Natürlich stand dahinter die Idee, Bürokratie und Verwaltung zu verschlanken, was ja erstmal gut gedacht ist. Aber wie so oft ist „gut gedacht“ selten gut. Die Gradeser sind mächtig sauer, und weil sie mehrheitlich bei den Bürgermeisterwahlen für einen linken Kandidaten gestimmt haben, die Region aber von einer rechten Koalition regiert wird, haben sie leider wenig Chancen, den Beschluss umzubiegen.
Besonders bizarr, auch wenn es die Schulkinder freuen wird: Grado erbt gewissermaßen nun auch die „Madonna della Salute“, die Schutzpatronin Staranzanos; die Kleinen werden also am 21. November schulfrei haben. Die eigentlichen Schutzpatrone Staranzanos sind Petrus und Paulus, aber weil Staranzano wiederum zum Schulsprengel von San Canzian d’Isonzo gehört, kommt die Madonna ins Spiel. Ja, der Katholizismus, gepaart mit der italienischen Bürokratie, wird manchmal so undurchsichtig wie eine Wiener Melange.
Ins Lenkrad beißen
Wie wird die Zusammenlegung praktisch aussehen? Müssen die Mütter und Väter jetzt für jedes Attest, jede Entschuldigung, jedes Gespräch mit der Schulleiterin nach Staranzano fahren? Das werden die nächsten Wochen zeigen.
Für Touristen ist die Fahrt über den fünf Kilometer langen Autodamm, der Grado mit dem Festland verbindet, ein kleiner Höhepunkt und beinahe schon Teil des Urlaubs selbst. Viele öffnen bei voller Fahrt das Fenster und genießen freudig die salzige Lagunen- und Meerluft. So mancher Gradeser dürfte in den nächsten Wochen aber auf dem Weg nach Staranzano und zurück eher ins Lenkrad beißen.
Stefan Maiwald