Laut Studien zwitschern die Vögel immer lauter. Aber nicht, weil es ihnen gefällt, sondern weil sie die Zivilisation rundherum übertönen müssen. Die Vögel vermitteln uns durch ihr Crescendo, dass wir gefälligst den Schnabel halten sollen, aber es hilft nichts. Die Welt versinkt im Lärm, und es ist der menschengemachte Krawall, der auch mich aufregt, obwohl ich kein Vogel bin.
Offenbar wird mein Nervenkostüm immer dünner. Ich werde zunehmend zu einem Blockwart, der seine Umgebung missmutig beobachtet und schäme mich ein bisschen dafür. Aber was soll ich tun? Einerseits kann ich meine Ohren nicht zuklappen. Andererseits will ich auch nicht, wie so viele, ständig mit Ohrstöpseln herumrennen, damit meine eigene Playlist den realen Sound der Welt überdeckt. Aber alles hören zu müssen, ist auch eine Plage.
Etwa, wenn ich unfreiwillig Zeuge von Smartphone-Konversationen werde. Was genau ist daran smart? Ein Zeitreisender aus der Vergangenheit, der das Handy nicht kennt, würde diese absurden, scheinbaren „Selbstgespräche“ wohl oft als Zeichen von Geisteskrankheit deuten.
Dank eines Insiders im Regionalzug weiß ich jetzt, welche Sexualpraktiken die Selina angeblich gerne hat. Und aufgrund des Brauchs vieler älterer Herrschaften, ihr Mobiltelefon grundsätzlich auf laut zu stellen und dann in dasselbe hineinzuschreien, habe ich erfahren dürfen, wie genau die Darmoperation vom Herbert verlaufen ist, dass die Erika einen furchtbar eitrigen eingewachsenen Zehennagel hat und dass die Schwiegertochter namens Claudia aber so eine blede Trutschn ist.
Zu diesem Konversationsmüll kommt der akustische Elektroschrott von TikToks, Computerspielen, Schlager, Techno, ständigen Klingel- und Nachrichtensignalen und nicht ausgeschalteten Tastentönen von Seniorenhandys, in die minutenlang SMS getippt werden. Ich kann nicht mehr … Ruhe bitte!
Was dröhnet da in aller Herrgottsfrühe vor dem Fenster? Der Hausmeister ist’s, zu dessen Grundausstattung neben der Wampe auch der Laubbläser gehört, eines der nervtötendsten Geräte überhaupt. Jedes Blatt ein Watt. Bloß keinen Besen in die Hand nehmen, obwohl der weniger Staub, weniger Lärm und weniger Wampe bedeuten würde. Und auch wenn der technische Fortschritt unsere Motoren ja leiser machen könnte, werden sie sogar oft noch lauter, wie mir scheint. Bei Autos zum Beispiel. Der neue BMW vom Emir müsste nicht so klingen wie ein röhrender Hirsch mit Verdauungsproblemen, aber das ist ab Werk so eingestellt, weil sich der Emir dadurch besser fühlt, wenn er die paar Meter bis zur roten Ampel dröhnend Vollgas fährt. Und der Luca kann sich seinen fahrbaren Potenzbeweis so tunen lassen, dass es klingt, als ob er persönlich den Auspuff abgesägt hätte. Denn die Fehlzündungen in seinen Gehirnzellen sollen sich auch in der Außenwelt widerspiegeln, damit man gleich weiß, mit wem man es zu tun hat. Wenn er dann noch das Fenster offen hat, kann die Welt auch an seinem wummernden Subwoofer teilhaben, wie auch insgesamt an seinem seiner Meinung nach bewundernswerten Musikgeschmack. Weil die Beschränkten halt eine Riesengaudi haben, wenn sie den Rest der Welt an ihrer Beschränktheit Anteil nehmen lassen. Meist sind die Krawallbrüder (Krawallschwestern gibt es weniger) ein geschlossenes Gesamtkunstwerk an Rücksichtslosigkeit. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass es andere Bedürfnisse, andere Geschmäcker, andere Welten, andere Menschen gibt. Und dort, wo Erziehung, soziale Bildung oder auch nur Verstand fehlt, nehmen alle anderen Rücksicht, um nur ja nicht als uncool oder intolerant zu gelten.
Neulich im Theater: Ich bitte die vom Prosecco aufgekratzten, unablässig kommentierenden Sitznachbarinnen um Ruhe. „Dann nehmen S’ halt a Ohropax!“ ist die Antwort. Genau: Die, die gestört werden, sollen sich gefälligst zustöpseln. Bei solchen Zeitgenossen zwitschern die Vögel besonders laut.
Mehr Gedankenspiele
Christian Hölbling