Die ungewöhnlichste venezianische Spezialität heißt Baccalà, Stockfisch. Die Liebesbeziehung der Lagunenbewohner zu einem Fisch aus dem kalten Nordmeer ist erst einmal schwer zu erklären – schließlich leben Venezianer inmitten reichster Fischvorkommen. Baccalà ist auch das Lieblingsgericht meiner Schwiegereltern. Ich werde nicht umhinkommen, mir den Burschen vorzuknöpfen.
Dass der Stockfisch, aus Kabeljau und anderen Dorschen zubereitet, überhaupt in die Serenissima gelangte, ist einem Schiffsunglück zu verdanken. Vor beinahe sechshundert Jahren stach ein venezianischer Kapitän namens Pietro Querini mit dem Ziel Flandern in See, doch die Reise verlief katastrophal: Nach heftigen Unwettern musste im Atlantik das schwer beschädigte Hauptschiff aufgegeben werden, die Männer retteten sich in Ruderboote. Nach zwanzig Tagen strandeten sie im Januar 1432 auf den Klippen einer unbewohnten Insel der Lofoten im Nordatlantik; dort wurden sie von Fischern aufgelesen.
Hart wie Holz
Drei Monate lang pflegten die Insulaner die Venezianer, bis sie die Reise gen Heimat antreten konnten und das Geheimnis des stoccafisso mitbrachten, der getrocknet und vor dem Verzehr klein geschlagen wurde. Darüber berichtete der Kapitän am 12. Oktober 1432 dem Großen Rat der Stadt: „Die Insulaner fangen täglich eine unvergleichliche Menge Fisch, vor allem zweier Typologien. Der eine heißt stocfisi, der andere ist eine Schollenart von beneidenswerter Größe. Die stocfisi trocknen im Wind und in der Sonne ohne Salz, und weil sie Fische ohne Fett und Feuchtigkeit sind, werden sie hart wie Holz. Wenn die Inselbewohner sie essen wollen, schlagen sie sie mit dem Pfannenboden in winzig kleine Stücke, dann geben sie Gewürze hinzu, um das Gericht schmackhaft zu machen.“
Schrotflinte für „Essensverweigerer“
Baccalà gilt als Speise, die würdig ist, alle großartigen Gerichte schachmatt zu setzen, schrieb ein Poet vor dreihundert Jahren. Man könne, so derselbe Poet, Stockfisch auf dreißig verschiedene Arten bereiten, und eine jede sei die delikateste. Und wie immer in Italien ist das Essen eine ernste Angelegenheit: In Vicenza nicht weit von Venedig gibt es die „Venerabile Confraternita del Baccalà alla Vicentina“, eine Baccalà-Bruderschaft, die Reisen auf die Lofoten organisiert und ein Baccalà-Festival veranstaltet. Die Logenbrüder tragen altertümliche Umhänge und goldene Broschen, Neumitglieder werden mit einem Stockfisch gesegnet. Wenn der Gast in einem der Lokale rund um Vicenza den Baccalà nicht aufisst, kommt der Wirt mit der doppelläufigen Schrotflinte aus der Küche.
Bei der Variante „Baccalà mantecato“, die meine Schwiegereltern besonders schätzen, wird der Stockfisch in Wasser und Milch eingeweicht und mit Knoblauch, Olivenöl, Petersilie, Salz und Pfeffer zu einem Brei eingekocht.
In der Latteria Popolare in der Calle de la Laca im Sestiere San Polo kaufte ich also einen Stockfisch, der genauso unsexy aussieht, wie er klingt, graubraun und an die Schuhsohle eines Riesen erinnernd. Der Stockfisch maß achtzig Zentimeter, ich klemmte ihn mir unter den Arm und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Die Touristen schauten mich an, als hätte ich eine Leiche unter dem Arm. Was ja genaugenommen auch stimmte. Ein paar Japaner taten so, als würden sie ein Selfie machen, fotografierten aber mich – ein Trick, den ich von meiner Tochter gelernt hatte, um prominente oder merkwürdige Menschen unauffällig abzulichten.
Es war früher Nachmittag, und ich hatte mit einem leeren Zug gerechnet. War er nicht. Es war ein bisschen peinlich mit diesem ausgetrockneten Reisegenossen. Venezianer, die hinzustiegen, nickten wissend, Fremde wunderten sich. Und: Ein bisschen begann es schon zu riechen. Dabei saß ich im Großraumwagen. Und der Fisch war in mehrere Folien eingeschlagen. Das hätte mich warnen müssen.
Erst ging es ans Zerkleinern, denn ich besitze keinen Topf mit achtzig Zentimetern Durchmesser. Was mir niemand gesagt hatte: Ein Stockfisch ist wortwörtlich ein Brett. Auch die schärfsten Küchen- und Brotmesser scheiterten beim Versuch, das Biest küchentauglich zu zerlegen. Eine Säge musste her. Doch in meinem Werkzeugkasten gab es keine Säge. Ich wühlte durch alle Schränke und fand schließlich eine kleine Laubsäge. Die musste es richten. Nach zehn Minuten verzweifeltem Kampf war der Fisch in zwei Hälften zerteilt und passte gerade so in den Topf. Auch nach mehrmaligem Händewaschen roch ich noch nach Lofoten.
Wie zusammengefegte Innereien
„Drei bis vier Tage“ bräuchte die Zubereitung, hatte man mir in Venedig eingebläut. Ein Fisch, der mehrere Monate getrocknet und dann gewissermaßen wieder zum Leben erweckt wird, riecht genau so, wie man sich das vorstellen muss. Nämlich etwa so wie zusammengefegte Innereien, die im Mülleimer des Hinterhofs auf die Abholung warten.
Ja, mit dem Geruch musste man rechnen. Aber es war eben doch eine schlechte Idee, Ende August, an den exakt drei heißesten Tagen des gesamten Jahres, einen toten Fisch einzuweichen. Unsere Wohnung im obersten Stock bekommen wir im Sommer nicht auf unter 26 Grad runtergekühlt, und an eine Aufbewahrung im Inneren war ohnehin nicht zu denken. Also schleppte ich den Stockfisch mit seiner Brühe stets morgens vom Ostbalkon auf den Westbalkon und am Nachmittag zurück, sodass der Topf wenigstens im Schatten stand. Doch auch dort war es bullenheiß. Und schon das Durchqueren des Wohnzimmers hinterließ eine grauenhafte Geruchsfahne. Die einzige Duftkerze, die wir noch hatten und die von meiner ältesten Tochter ostentativ angezündet und in einer Art Privatprozession durchs Wohnzimmer getragen wurde, verströmte weihnachtliches Zimtaroma, was wenig hilfreich war.
Dann ging es einfach nicht mehr.
Ich bin überhaupt nicht geruchsempfindlich, schließlich aßen meine Großeltern schon Harzer Roller zum Frühstück, und ich kenne kaum etwas Köstlicheres als Gorgonzola in allen erdenklich Schimmelstadien. Aber was der Baccalà, der in der Hitze ausdünstete, von sich gab, war eine Nahtoderfahrung für alle Beteiligten. 37 Grad warm wie in Grado wird es auf den Lofoten eben nicht.
Ich musste das Projekt beenden. Völlig ausgeschlossen, dass ich mit diesen beiden Fischhälften auch noch stundenlang arbeiten müsste. An den Geruch in der Wohnung, der wohl für Wochen bleiben würde, wollte ich gar nicht denken. Und ich selbst hätte mich für die nächsten Wochen olfaktorisch in einen 186 Zentimeter großen Stockfisch verwandelt; ein Sozialleben wäre undenkbar geworden.
In die (Nachbars-)Tonne
Ich verknotete die inzwischen aufgeweichten Fischreste in Plastiktüten und brachte sie zum Müll, und zwar in eine Tonne, die ein paar Häuser weiter stand. Dann kippte ich die Brühe weg. Als letzter Mittelfinger suppte mir dabei ein ordentlicher Schwall aufs Bein und durchweichte meine Lieblingshose.
Und dann tat ich das, wozu mir zuvor schon alle geraten hatten: Ich kaufte den Aufstrich fix und fertig, geruchlos verschlossen. Und meine Tochter, die immer noch wie ein Weihnachtsbaum duftete, schaute mich wieder ganz verliebt an.