Es war eine olympisches Wintermärchen: „Sarajevo 84“, die ersten Winterspiele in einem sozialistischen Land und in einer Stadt mit Moscheen und Minaretten. Die multiethnische Metropole im Herzen des damaligen Jugoslawiens wurde zum modernen Sinnbild eines friedlichen Miteinanders. Ein historisches Ereignis, das in Bosnien bis heute präsent ist.
Sportliches Debakel
Historisch waren die Spiele auch für Österreich - allerdings im negativen Sinn: ein Debakel, sportlich das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der erfolgsverwöhnten Skination. Nur der Osttiroler Anton Steiner holte Bronze in der Abfahrt. Der heute 65-Jährige erinnert sich: „Für mich war es der größte Erfolg meiner Skikarriere, gleichzeitig waren die Spiele für uns die größte Enttäuschung.“ Am Austragungsort lag es laut Steiner nicht: „Sarajevo stand geschlossen hinter den Spielen, alles war herausgeputzt. Die Menschen verzichteten auf viel für perfekte Spiele. Rund um die Stadt gab es kaum Strom, die ganze Energie floss sprichwörtlich zu Olympia.“
Aus dem Nichts
Die Vergabe an Sarajevo war überraschend erfolgt, denn Infrastruktur war kaum vorhanden, schon gar nicht für Winterspiele. Alles musste aus dem Boden gestampft werden: ein Flughafen, ein Bahnhof und Zufahrtsstraßen. Zwei olympische Dörfer und eine Eishalle wurden errichtet sowie ein weiteres Stadion erneuert. Ein luxuriöses Hotel im Stadtzentrum und drei auf den umliegenden Bergen wurden hochgezogen. Dazu fünf Sprungschanzen, elf Skilifte, Skipisten, Langlaufloipen und eine Bobbahn, die modernste ihrer Zeit.
Über 200 Millionen Dollar wurden hineingesteckt, die sich rechnen sollten, denn die Spiele waren die ersten mit Gewinn seit den 1930er-Jahren. Die ambitionierten Pläne gingen auf, Sarajevo entwickelte sich in den Folgejahren zum angesagtesten Wintersportort Jugoslawiens. Der Kärntner Slowene und Diplomat Valentin Inzko, von 2009 bis 2021 Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzogowina, war 1984 Presse-Attaché in der Botschaft in Belgrad: „Für Sarajevo waren es goldene Zeiten mit einem gigantischen Modernisierungsschub. Eine Zeit voll von Stolz, Hoffnung und Optimismus. Einheit und Brüderlichkeit waren zu spüren.“ Bis acht Jahre später alles ein jähes Ende fand.
Stadt im Granaten- und Kugelhagel
1992 entbrannte zwischen den Volksgruppen im zerfallenden Jugoslawien Krieg. Sarajevo wurde 1425 Tage lang von serbischen Truppen belagert. Es war die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert - länger als die von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg. Von den umliegenden Bergen, den Austragungsorten der Olympischen Spiele, feuerte man täglich bis zu 300 Granaten auf die Stadt ab.
Hotels, Sprungschanzen und Bobbahn wurden Kampfschauplätze, Gefangenenlager oder Artilleriestände. 11.000 Menschen kamen ums Leben. Das Stadion, in dem man die Spiele 1984 pompös vor 60.000 Zusehern eröffnet hatte, wurde zum Massengrab umfunktioniert. Die von Einschusslöchern durchsäten Spielstätten sind heute Ruinen, Mahnmal gegen den Krieg und morbide Touristenattraktion: Die Seilbahn auf den Trebevic wurde 2018 wiedereröffnet und führt zu diesen Lost Places (verlorenen Orten).
Stolz und Sehnsucht
Langsam erholen sich die Menschen und die Stadt von den Wunden. „In der Stadt ist vieles wieder schön hergerichtet, auch einige Skilifte sind in Betrieb. Aber im Hinterland merkt man die Spuren noch. Auch die Spannungen sind noch nicht überwunden, das braucht Zeit“, sagt Steiner, der alle zehn Jahre zu Feierlichkeiten nach Sarajevo eingeladen wird. „Da fühlt man bei jedem, egal ob Serbe, Kroate oder Bosnier, noch den Stolz auf 1984.“ Und Inzko spürt heute in Bosnien „die Sehnsucht nach jenen Zeiten, als man Welthauptstadt war, zumindest Welthauptstadt des Sports“.
Ein Blick auf die Berge um Sarajevo zeigt, dass die verwundete Stadt wieder zum Mut von 1984 zurückfindet: Gigantische Hotel-Projekte wie das „Trebevic Hills“ oder das „Roof Garden by Xyllion“ sind geplant beziehungsweise bereits im Bau.
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