Eine Serie an Frauenmorden erschüttert Österreich, in Wien wurden in einem Bordell drei Frauen erstochen. Anna R* weiß genau, wie es ist, mit Angst zur Arbeit zu gehen. 32 Jahre lang war die Kärntnerin in der illegalen Prostitution tätig: „Du gehst jeden Tag mit der Gewissheit zur Arbeit, dass du nicht mehr heim kommen könntest.“ Jetzt schaffte sie mithilfe des Pilotprojekts „re(ad)ress“ der Diakonie de La Tour den Umstieg.

Aufgewachsen ist R.* in einer eher konservativen Familie. Dass ausgerechnet sie als gelernte Konditorin einmal als Sexarbeiterin ihren Lebensunterhalt bestreiten würde, hätte wohl niemand für möglich gehalten. Und doch kam es so, schleichend. „Ich war damals 20 Jahre alt. Ich war naiv und bin da irgendwie reingerutscht. In dem Alter bist du leicht zu manipulieren und glaubst alles“, erzählt die Kärntnerin.

Auch der Luxus, den andere Frauen im Milieu zur Schau stellten - teure Autos, Pelzmäntel, Schmuck - sei verlockend gewesen. Und irgendwann kam der Punkt, an dem sie sich gar keine Gedanken mehr über ihren „Job“ gemacht habe: „Irgendwann kommst du in einen Trott hinein. Ich wollte dann einfach nur noch Geld verdienen, um von niemandem abhängig zu sein.“

Projektleiterin Lisa Fian vom Fachbereich Asyl, Migration und Integration der Diakonie de La Tour
Projektleiterin Lisa Fian vom Fachbereich Asyl, Migration und Integration der Diakonie de La Tour © Privat

Da sie als illegale Prostituierte nicht angemeldet war, nahm R.* kleine Nebenjobs an, in Reinigungsfirmen, Büros, Autowerkstätten: „Meine Haupteinnahmequelle war aber immer die Prostitution.“ Von einem Zuhälter war sie nie abhängig: „Ich habe auch nie Drogen genommen oder Alkohol getrunken, wie viele Kolleginnen, weil ich wusste, dass mir das nicht guttut.“ Dadurch galt sie im Milieu als Außenseiterin - was auch Gefahren barg: „In einem Laufhaus sind viele Leute da, die hören dich, wenn du schreist. Ich war allein in meiner Dienstwohnung.“

Gefährliche Situationen

Gefährliche Situationen habe sie in all den Jahren zwei erlebt - am Ende sei zum Glück immer alles gut ausgegangen. Das sei ihrer guten Menschenkenntnis geschuldet: „Ich habe auch Kunden abgewiesen, wenn mir an ihnen etwas komisch vorkam. Und oft habe ich im Nachhinein erfahren, dass andere Kolleginnen mit ihnen Probleme hatten. Mein Bauchgefühl war also richtig gewesen.“

Ein Bauchgefühl war es auch, das sie im Sommer des Vorjahres dazu bewog, einen neuen Lebensweg einzuschlagen. „Nach 32 Jahren habe ich plötzlich Zweifel bekommen“, erzählt R.* über ihre ersten Gedanken, aus der Prostitution auszusteigen. Bei einer Untersuchung machte die Ärztin sie auf das neue Pilotprojekt „re(ad)ress - Einstieg in den Umstieg“ der Diakonie de La Tour aufmerksam.

„Dieses Projekt ist uns ein ganz besonderes Anliegen. Es ermöglicht Frauen den Umstieg aus einem Lebens- und Arbeitsbereich, der von unserer Gesellschaft still akzeptiert, genutzt, gewollt, aber aus dem Blick gedrängt wird“, so Astrid Körner, Rektorin der Diakonie de La Tour. Das Projekt wurde im Vorjahr von der Diakonie in Kooperation mit Checkpoint (ehemals Aidshilfe) sowie der FH Kärnten, für die wissenschaftliche Begleitung gestartet und wird aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds Plus (ESF+/JTF) und des Landes finanziert. „Wir unterstützen ehemalige Sexarbeiterinnen bei ihrer beruflichen Neuorientierung“, erklärt Nadja Prasser, Sozialarbeiterin und Projektmitarbeiterin.

Nadja Prasser, Sozialarbeiterin und Projektmitarbeiterin im Interview
Nadja Prasser, Sozialarbeiterin und Projektmitarbeiterin im Interview © Dieter Kulmer

Eigene Wohngemeinschaft

Mittlerweile nehmen sieben Frauen daran teil. Die größte Herausforderung seien die unterschiedlichen Voraussetzungen, die sie mitbringen, sagt Prasser. Denn während die einen über einen Lehrabschluss verfügen, haben andere nicht einmal einen Volksschulabschluss - sprachliche Hürden kommen oft dazu. Manche Frauen wissen auch nicht, wo sie mit ihren Kindern vorübergehend leben sollen. Für sie gibt es eine Wohngemeinschaft mit vier Einheiten, von denen derzeit drei belegt sind.

Das Projekt läuft bis Herbst, danach gibt es, sofern es erfolgreich war, eine dringend benötigte Fortsetzung oder zumindest noch die Nachbetreuung der Teilnehmerinnen des Pilotprojektes über die Projektpartnerinnen und -partner. Zu glauben, alle Frauen könnten sofort eine neue Arbeit beginnen, sei aber unrealistisch, sagt Prasser: „Wir wollen sie fit für den Arbeitsmarkt machen, es soll ein Sprungbrett hin zur Arbeitsfähigkeit sein.“ Daher wird dafür gesorgt, dass die Frauen etwa beim AMS oder bei der Volkshochschule die für sie passenden Kurse besuchen. Auch psychologische Betreuung wird angeboten, die etwa R* gerne annimmt: „Ich habe gemerkt, dass auch bei mir, wie wahrscheinlich bei jeder Frau, die diesen Job gemacht hat, das eine oder andere vergraben liegt.“ In Praktika lernen die Frauen verschiedene Berufe kennen.

R.* strebt einen Job in einem Büro an. Da sie die einzige Inländerin unter den Frauen ist, über eine Ausbildung verfügt und extrem zielstrebig vorgehe, so Prasser, sei sie eine positive Ausnahme. „Wenn ich etwas mache, dann zu 100 Prozent“, sagt R.*, die gemäß dieses Mottos ihren Umstieg geschafft hat: „Ich habe von heute auf morgen meine Dienstwohnung und mein Diensthandy gekündigt, meinen richtigen Namen kannte keiner meiner Kunden.“

R* blickt nun voller Vorfreude auf ihren zukünftigen Beruf. Ihre Freunde und Nachbarn, die alle wissen, welchen Beruf sie vorher ausgeübt hat, seien enorm stolz auf sie. Spätestens im Sommer oder Herbst möchte R.* wieder arbeiten - und auch Prasser ist überzeugt, dass sie das auf jeden Fall schafft.

*Name von der Redaktion geändert