Am Tag, nachdem die Kathedrale von Notre Dame brannte, sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, man werde sie "schöner als zuvor" wiederaufbauen, in nur fünf Jahren. Pünktlich zu den Olympischen Spielen im Sommer 2024 in Paris soll Notre Dame fertig sein. Wer sich das Feuer in Erinnerung ruft, mag dieses Ziel leicht größenwahnsinnig finden.
Wie knapp es stand um die Kathedrale in der Nacht vom 15. auf den 16. April 2019, darüber kann man sich jetzt dank eines Dokumentarfilms ein Bild verschaffen. Er führt den Zuschauern vor Augen, wie das Feuer bereits im Nordturm wütete und das Schicksal des gotischen Meisterwerks auf Messers Schneide stand: Einer der Balken, an dem eine der beiden tonnenschweren Glocken hing, brannte bereits. General Jean-Claude Gallet, der das Kommando über die Pariser Feuerwehr in dieser Nacht hatte, ging zum Präsidenten und holte sich sein Ok, um seine Männer in den Turm zu schicken. "Wir wussten nicht, ob die Glocke halten oder ob sie den ganzen Turm zum Einsturz bringen würde", sagt der, den sie nur noch "General Courage" nennen.
Zum ersten Mal kann man jetzt Aufnahmen sehen, die die Feuerwehrleute während ihres Einsatzes gemachten hatten. Im Mittelschiff, in dem zu diesem Zeitpunkt noch alles wirkt wie immer, bricht durch ein kleines Loch im Deckengewölbe plötzlich ein leichter Funkenregen durch. Man könnte diese Bilder für schön halten, wenn man nicht wüsste, dass die rote Glut aus dem hölzernen, "Wald" genannten Dachstuhl kam. Immerhin konnten die Feuerwehrmänner in letzter Sekunde die Dornenkrone, andere Reliquien und zahlreiche Kunstschätze retten.
Erst im Sommer diesen Jahres wird die Kathedrale so abgesichert sein, dass mit Wiederaufbau und Restauration begonnen werden kann. Unerwartete Probleme haben in den ersten beiden Jahren seit dem Brand den zügigen Fortschritt der Baustelle behindert: Wegen der Einsturzgefahr musste verkohltes Gebälk oder herabgefallene Steine aus dem Kirchenschiff mühselig mit Robotern entfernt werden. Hinzu kam die starke Kontamination mit Blei, die immer noch ein strenges Protokoll für alle Arbeiter und Restauratoren verlangt. Auch der strenge Lockdown im Frühjahr vergangenen Jahres hat die Arbeiten um zwei Monate zurückgeworfen.
Die größte Herausforderung aber war der Abbau des durch das Feuer verformten Gerüsts auf dem Dach der Kathedrale. Sechs Monate lang waren Industriekletterer damit beschäftigt, die Rohre eins nach dem andren abzutragen, 40.000 an der Zahl. Es sah von unten aus wie ein gigantisches Mikadospiel in der Luft. Erst Ende letzten Jahres war das geschafft.
Wer sich Notre Dame heute von der Seine oder von der Ile-Saint-Louis aus nähert, der sieht noch immer die Wunden klaffen. Viele Teile des gotischen Bauwerks, das Gewölbe, 26 Bögen innen, alle Strebebogen außen, werden von maßgefertigten Holzkonstruktionen gestützt. Vorm Vorplatz her könnte man die Kathedrale inzwischen fast für unversehrt halten. Nur der Spitzturm auf der Vierung von Eugène Viollet-le-Duc fehlt. "Wir werden ihn identisch wieder aufbauen", versichert Jean-Louis Georgelin, Fünf-Sterne-General und Generalsstabschef a.D., den Macron mit der Koordination des Wiederaufbaus beauftragt hat. 1000 Eichen aus dem ehemals Königlichen Forst von Bercé sind schon gefällt worden und sollen die Struktur bilden.
Dass man sich entschieden hat, die Kathedrale originalgetreu wiederaufzubauen, wird den Prozess beschleunigen. Gorgelin verspricht, das Gotteshaus dem Domdekan wie geplant in drei Jahren zu übergeben. Dann soll es von Innen fertig und für Gottesdienste betretbar sein. Doch die Arbeiten an der Fassade und am Dach werden noch länger dauern. Inzwischen ist der Innenraum der Kathedrale mit einem 27 Meter hohen Stahlgerüst komplett eingerüstet. Noch hängt eine Plane über dem Mittelschiff, die aber bald durch ein provisorisches Holzdach ersetzt werden soll.
833 Millionen Euro Spenden sind aus der ganzen Welt in Paris eingetroffen, um Notre Dame wiederaufzubauen. Neben Viollet-le-Ducs Spitzturm soll auch der Dachstuhl weitgehend originalgetreu nachgebaut werden. Von kühnen architektonischen Gesten hat man sich endgültig verabschiedet. Unmittelbar nach dem Brand, als noch von einem Architektenwettbewerb die Rede war, kursierten die verrücktesten Ideen. "Schwebender Garten" oder "gläsernes Dach", kein Vorschlag schien zu originell. Ein schwedischer Architekt schlug sogar vor, ein Schwimmbad auf dem Dach der Kathedrale zu errichten.
Der Streit zwischen Puristen und Modernisten ist seit letztem Sommer beigelegt - aber: "Die Kathedrale wie im Mittelalter wieder aufzubauen, hat in meinen Augen etwas Trauriges und Mittelmäßiges", beklagt Alexandre Gady, Kunsthistoriker an der Sorbonne und Autor des Buches "Notre-Dame de Paris: Entstehung eines Meisterwerks". Er ist enttäuscht, dass angesichts der vielen Spenden nur eine "schlechte Kopie" dessen entstehen wird, was zerstört wurde.