Eliot Jacobson musste diese Woche sein Diagramm nach oben hin ausweiten. Mit der bisherigen Darstellungsweise wäre die Entwicklung auf der Y-Achse nicht mehr abbildbar gewesen, schrieb der US-amerikanische Mathematiker am Dienstag auf Twitter. Die aktuellen Wassertemperaturen im Nordatlantik, deren Verlauf der Computerexperte akribisch aufbereitet, sprengen in diesem Sommer alles jemals Dagewesene. Aktuell liegen die Werte laut den Daten der US-Wetterbehörde NOAA um 1,36 Grad Celsius über dem Mittel der vergangenen 40 Jahre und stellen selbst den bisherigen Rekordwert aus dem Jahr 2020 um rund 0,7 Grad in den Schatten. Und die heurige Abweichung wird von Woche zu Woche größer (siehe Grafik unten).

Warum das so ist, lässt auch Forscher rätseln. "Diese abnorme Wärme ist etwas Außergewöhnliches und weit über allen Temperaturen, die in den letzten Jahrzehnten gemessen wurden", sagt Ulrich Foelsche, Atmosphärenphysiker an der Uni Graz. "Ozeantemperaturen verändern sich normalerweise sehr langsam und träge im Bereich weniger Zehntelgrad. Im Nordatlantik haben wir es heuer mit viel größeren Anstiegen zu tun, deren Ursachen man noch nicht zur Gänze verstanden hat."

Schwache Winde, weniger Partikel

Dass neben den Rekordtemperaturen an Land auch jene in den oberen Ozeanschichten ansteigen und bisherige Höchstwerte durchbrechen, kommt angesichts des menschengemachten Klimawandels nicht überraschend. Zwischen 1955 und 2020 haben sich die Weltmeere um eine Energiemenge von 345 Trilliarden Joule erwärmt. Doch was sich derzeit im Meer zwischen Europa und Nordamerika abspielt, sei allein damit nicht erklärbar, sagt Foelsche. Es muss weitere Zutaten für den Wärmecocktail geben.

Als einen möglichen Grund für den atlantischen Hitzeschub haben Forscher das schwach ausgeprägte Azorenhoch identifiziert, das Europa im heurigen Juni erlebt hat. Dadurch fielen auch die Passatwinde schwächer aus und konnten weniger Saharastaub über dem Atlantik verteilen. "Wenn es weniger Partikel in der Luft gibt, dringen die Sonnenstrahlen stärker auf die Wasseroberflächen durch, was die Erwärmung steigern kann", sagt Foelsche. Zudem gebe es bei schwächelnden Passatwinden auch weniger Wasserumverteilung. Kühles Tiefenwasser dringe dadurch nicht so stark an die Oberfläche wie sonst.

Was ebenfalls eine Rolle spielen könnte, sind ausgerechnet strengere Umweltauflagen in der Schifffahrt. So hat die Weltschifffahrtsorganisation IMO 2020 die höchstzulässigen Schwefelanteile im Schiffstreibstoff von 3,5 auf 0,5 Prozent abgesenkt. "Gibt es in der Folge weniger Schwefelsäure in der Atmosphäre, kann die Sonnenstrahlung ebenfalls besser durchdringen", sagt Foelsche.

Mehr Extremwetter im Herbst?

Keinen nennenswerten Zusammenhang dürfte es dagegen mit dem heurigen El-Niño-Ereignis geben, das vor allem im Pazifik den Wassertemperaturen und im globalen Mittel auch den Lufttemperaturen zusätzlichen Schub nach oben verleiht (siehe auch Grafik unten). Unklar ist auch, wie es mit den Ozeantemperaturen im Atlantik und im ebenfalls überhitzten Mittelmeer weitergeht. Eine Folge für Mitteleuropa könnten im Herbst stärkere Niederschläge sein. "Wenn Mittelmeertiefs durch die höheren Wassertemperaturen feuchtere Luft mit sich bringen, steigt das Potenzial für Extremwetter", sagt Foelsche.

Eine Entwicklung, die im Hintergrund durch den Klimawandel begünstigt werde. "Durch die globale Erwärmung treten immer wieder Phänomene auf, die man bisher so nicht gekannt hat. Das kann einen schon mit Sorge erfüllen", sagt der Forscher.